EuGH: Urlaubsanspruch für rechtswidrig entlassenen und wiedereingestellten Arbeitnehmer
Es ist nicht selten, dass das vielbesagte „Rechtsgefühl“ gegenüber Entscheidungen des EuGH rebelliert, weil das Ergebnis so ganz und gar nicht dem entspricht, was das Gerechtigkeitsempfinden als zutreffend erachtet. Ein solches Urteil hat der EuGH zu einer Vorlagefrage des Obersten Tschechischen Gerichtshofs erlassen (EuGH, Urt. v. 12.10.2023 – C-57/22 – Ředitelství silnic a dálnic (Direktion für Straßen und Autobahnen der tschechischen Republik)). Der Sachverhalt ist simpel und gehört deshalb wohl auch in die Kategorie des „Gewöhnlichen“: Vier Jahre lang war die Angestellte bei dieser Behörde beschäftigt, dann kam es zur Kündigung. Dabei ließ diese es jedoch nicht bewenden, sie erhob Kündigungsschutzklage. Das vorlegende Gericht stellte fest, dass die Angestellte nach Erhalt der Kündigung ihrem Arbeitgeber schriftlich angezeigt hatte, sie sei weiterhin arbeitsbereit. Doch wurde ihr für die Zeit vom 1.1.2014 bis zum 14.1.2017 keine Arbeit zugewiesen.
Indessen stellte das Regionalgericht in Brünn fest, die Kündigung sei nichtig; darauf nahm die Klägerin ihre Arbeit wieder auf und beantragte sogleich, ihren während der drei Jahre nicht genommenen Urlaub nehmen zu können. Dieses Ansinnen lehnte der Arbeitgeber jedoch mit dem Hinweis darauf ab, sie habe ja während dieser drei Jahre auch nicht für ihn gearbeitet. Die Angestellte reagierte in der Weise, dass sie von sich aus den Urlaub antrat und nicht zur Arbeit erschien. Die Quittung kam prompt: die fristlose Kündigung.
Mit ihrer Klage fordert die Angestellte nunmehr für die Zeit ihres (nicht angetretenen) Urlaubs den Lohnausgleich nebst Verzugszinsen und zwar für die Jahre Januar 2014 bis Januar 2017. Das Stadtgericht wies die Klage ab; die Klägerin legte erneut Rechtsmittel zum vorlegenden Gericht ein, dem Obersten Tschechischen Gerichtshof. Seine Vorlagefrage zielt darauf ab, ob denn einem Arbeitnehmer nach Maßgabe von Art. 7 der RL 2003/88/EG auch dann ein Urlaubsanspruch für den Zeitraum zusteht, in dem er nicht gearbeitet hat (2014 – 2017). In der Sache geht es um die zutreffende Auslegung dieser unionsrechtlichen Norm. Sie lautet: „(1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind. (2) Der bezahlte Mindestjahresurlaub darf außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden.“
In seinen Gründen stellt der EuGH als erstes fest: Hier bestand deswegen ein Arbeitsverhältnis im Sinn der RL 2003/88, weil die Angestellte unverzüglich nach Erhalt der Kündigung ihren Arbeitgeber davon in Kenntnis gesetzt hatte, sie sei weiterhin bereit, ihm ihre Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen. Außerdem legt der Gerichtshof Wert auf die Feststellung, dass die Angestellte ihre Arbeit sogleich wieder aufnahm, nachdem ihre Kündigungsschutzklage abgewiesen worden war (Rz. 23).
Bei der daher gebotenen Auslegung von Art. 7 der RL 2003/88 ist nicht Wortlaut und Kontext zu beachten, sondern vor allem ist Ziel und Zweck der Richtlinie (effet utile) ins Auge zu fassen (Rz. 26). Dieser Gesichtspunkt wird hier noch durch den Verweis auf die Vorschrift des Art. 31 Abs. 2 EuGRC verstärkt. Denn dort ist gleichsam auf der höheren unionsrechtlichen Normebene der Anspruch des Arbeitnehmers auf Jahresurlaub verankert. In dieser Perspektive weist der EuGH diesem Anspruch zwei Ziele zu: „Es dem Arbeitnehmer zu ermöglichen, sich zum einen von der Ausübung der ihm nach seinem Arbeitsvertrag obliegenden Aufgaben zu erholen und zum anderen über einen Zeitraum der Entspannung und Freizeit zu verfügen“ (Rz. 32). Dieser Zweck, so stellt jedoch der Gerichtshof sogleich – einschränkend – fest, „beruht auf der Prämisse, dass der Arbeitnehmer im Lauf des Bezugszeitraums tatsächlich gearbeitet hat“ (Rz. 33). Das trifft hier nicht zu.
Doch diese Hürde überwindet der EuGH mit erstaunlicher Leichtigkeit unter Formulierung dieses extensiv formulierten Auslegungsgrundsatzes: Der „Mitgliedstaat kann in bestimmten besonderen Fällen, in denen ein Arbeitnehmer nicht in der Lage ist, seine Aufgaben zu erfüllen, den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nicht von der Voraussetzung abhängig machen, dass der Arbeitnehmer tatsächlich gearbeitet hat“ (Rz. 34). Diese Voraussetzung ist nach den Wertungen des Gerichtshofs dann gegeben, wenn – wie hier – feststeht, dass der Arbeitnehmer nur deswegen nicht arbeiten konnte, weil ihm der Arbeitgeber rechtswidrig gekündigt hatte.
Nach der Richtlinie sind der „Anspruch auf Jahresurlaub und der auf Zahlung des Urlaubsentgelts als zwei Aspekte eines einzigen Anspruchs“ (Rz. 41) einzuordnen. Letztlich gilt aber dieser Grundsatz: Eine restriktive Auslegung des Anspruchs auf Gewährung eines Jahresurlaubs, der „sich unmittelbar aus der Richtlinie ergibt“, ist nicht zulässig (Rz. 44). Damit ist der unionsrechtlich vorgezeichnete Weg offen: Der rechtswidrig gekündigte Arbeitnehmer hat auch ohne Arbeit geleistet zu haben, Anspruch auf Gewährung des ihm gesetzlich in dieser Zeit zustehenden Jahresurlaubs. Der Lohn steht ihm ohnedies zu (Rz. 16). Die Arbeitgeber wird’s freuen.