EU: Maßnahmen zur verbesserten Durchsetzung des EU-Rechts
Mitte Juli hat die Kommission ihren jährlichen Bericht über ihre Kontrolle bei der Anwendung des EU-Rechts vorgelegt, der aufzeigen soll, wie der Schutz der Rechte und Freiheiten von Personen und Unternehmen in der EU erreicht wird („Annual Report on monitoring the application of EU law“). Dabei betont die Kommission, dass es ihr vor allem darum geht, bei etwaigen Zuwiderhandlungen der Mitgliedstaaten bereits im „Vorfeld“ tätig zu werden, damit es erst gar nicht zu einem Vertragsverletzungsverfahren kommt. Auf diesem Weg will sie erreichen, dass sie, wie sie selbst sagt, die bestmöglichen Instrumente zur Durchsetzung des EU-Rechts einsetzt. Erreicht wurde auf diese Weise, dass im abgelaufenen Jahr 96 % aller Fälle im „Dialog“ zwischen Kommission und Mitgliedstaaten beigelegt werden konnten, bevor es zu einem Gerichtsverfahren kam.
Doch es waren immerhin stolze 551 neue Vertragsverletzungsverfahren, welche die Kommission eröffnete; alle Mitgliedstaaten waren von dem ein oder anderen Verfahren betroffen. 35 dieser Verfahren wurden bereits dem EuGH zur Entscheidung vorgelegt; im Vorjahr waren es „nur“ 31. Etwas drakonischer ist die andere Zahl: In 17 Verfahren beschloss die Kommission, den Gerichtshof anzurufen, um gegen einen Mitgliedstaat wegen verspäteter Umsetzung einer Richtlinie eine Geldbuße zu verhängen. Diese harte Vorgehensweise hatte auch zur Folge, dass die Mitgliedstaaten sich anders besannen, so dass 489 Vertragsverletzungsverfahren wieder eingestellt werden konnten. Doch die Bedeutung der von der Kommission unternommenen Präventionsarbeit soll nicht unter den Tisch fallen: In über 100 Ausschüssen, Expertengruppen oder Workshops war die Kommission zusammen mit Vertretern der betroffenen Mitgliedstaaten aktiv. Praktische Leitlinien wurden erarbeitet und vor allem auch Schulungen durchgeführt, um das Verständnis des EU-Rechts und seiner Durchsetzung auf der Ebene des Nationalstaats zu fördern.
Die gegen Deutschland eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren betreffen die unionsrechtlich vereinheitlichte Anerkennung von Berufsqualifikationen, weil Berlin nach Ansicht der Kommission bei der Zulassung von Hebammen zu strenge Anforderungen gestellt hat. Ein ähnlicher Vorwurf bezieht sich auf die fehlende Anerkennung der Berufsqualifikation in der Binnenschifffahrt (Delegierte RL (EU) 2020/12), weil hier Zeugnisse aus Drittländern nicht – wie vorgesehen – anerkannt werden. Ein anderes Vertragsverletzungsverfahren bemängelt, dass die Bundesrepublik verschiedene Bestimmungen über die Strafbarkeit terroristischer Handlungen nicht ordnungsgemäß ins deutsche Recht umgesetzt hat (Richtlinie v. 15.3.2017 – RL (EU) 2017/541). Zwei weitere Verfahren betreffen Bereiche des Seeverkehrs (VO über Hafendienste) sowie die Verordnung betreffend Luftverkehrsmanagement.
Entsprechend der politischen Agenda der EU sollen aus dem referierten Jahresbericht der Kommission vor allem drei Bereiche herausgegriffen werden: der „Green Deal“, die Digitalisierung („A Europe fit for the digital age“) und die „wertebasierten“ Vorhaben, die sich unter dem Stichwort „Promoting the European way of life and democracy“ zusammenfassen lassen.
Einer der Ecksteine des „Green Deal“ ist der Aktionsplan der Kommission für eine Kreislaufwirtschaft („Circular Economy Action Plan“). Die EU will Europa „sauberer und auch wettbewerbsfähiger“ machen. Doch gegenwärtig laufen elf Vertragsverletzungsverfahren wegen nicht vollständiger Umsetzung der (Ein-Weg-)Plastik-Richtlinie vom 5.6.2019 (RL (EU) 2019/204). Bekanntlich strebt die EU vor allem das ehrgeizige Ziel an, bis zum Jahr 2050 klimaneutral zu werden. Das verlangt von den Mitgliedstaaten eine politisch-rechtliche Langzeitstrategie. Doch Bulgarien, Polen, Irland und Rumänien haben ihre Planungen der Kommission noch nicht vorgelegt. Per Saldo stellt die Kommission allerdings wohl etwas missmutig fest, dass immerhin in 42 Fällen die ein oder andere klimarelevante Richtlinie nicht ordnungsgemäß umgesetzt wurde, was die Kommission zur Intervention auf den Plan gerufen hat. Erwähnt wird hier, dass Schweden, aber auch Deutschland die Strom-Richtlinie vom 5.6.2019 (RL (EU) 2019/944 – Elektrizitätsbinnenmarkt) nicht ordnungsgemäß umgesetzt haben, was die Kommission gerügt hat; doch gegen acht Mitgliedstaaten hat sie bereits Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet.
Im Bereich der Regulierung des „Digital Market“ hat, wie man weiß, die Kommission ein „Digitales Jahrzehnt“ ausgerufen. Ein überaus ehrgeiziges Ziel. Denn die Kommission strebt an, eigene Standards für den Datenverkehr zu entwickeln und gesetzlich zu verankern, die sich im globalen Wettbewerb um Vertrauen der Nutzer, vor allem auch in Bezug auf eine sichere und menschenrechtlich verankerte Technologie durchsetzen sollen. Im Mittelpunkt steht hier aus der Sicht der Kommission die Umsetzung der Richtlinie „über den europäischen Kodex für die elektronische Kommunikation (v. 11.12.2018 – RL (EU) 2018/1972). Dadurch soll der Anbieterwechsel, aber eben auch der Verbraucherschutz gestärkt werden. Doch es sind zehn Mitgliedstaaten, gegen welche die Kommission vor dem EuGH ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet hat; bei vier Mitgliedstaaten könnte es sogar sehr bald zu finanziellen Sanktionen kommen. Mit einiger Befriedigung stellt die Kommission hingegen fest, dass die Richtlinie vom 20.5.2019 (RL (EU) 2019/770) betreffend die Bereitstellung digitaler Inhalte und digitaler Dienste ebenso wie die parallele Warenkauf-Richtlinie (RL (EU) 2019/771) bis Ende des vergangenen Jahres von allen Mitgliedstaaten – ausgenommen die Slowakei – umgesetzt wurde. Das hat die Rechtssicherheit für Unternehmen erhöht, wie die Kommission sichtlich zufrieden feststellt.