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Pflichtenvermehrung durch ESG - Die neuen Vorgaben der EU als multiple, verbundene und haftungsträchtige Eingriffe (Reuter, ZIP 2023, 1572)

Unter den Titeln „Corporate Social Responsibility“ (CSR) und „Environment/Social/Governance“ (ESG) erlässt die EU derzeit viele Regelwerke für Unternehmen, die Klima und Umwelt sowie „soziale“ Anliegen, insbesondere Menschenrechte, schützen und eine gute Unternehmensführung befördern sollen. Rechtliche Flaggschiffe sind die Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD), die TaxonomieVO sowie der Entwurf der Kommission für eine Corporate Sustainability Due Diligence Directive (CSDDD-E). Die ESG-Vorgaben setzen in vielfältiger Weise an: Die CSRD verpflichtet zu einem jährlichen Bericht mit retrospektiven und prospektiven Elementen über Nachhaltigkeitsaspekte, der auch Angaben über die unternehmensinterne Organisation und deren „Wirksamkeit“ enthalten muss. Der CSDDD-E verpflichtet Unternehmen, dafür zu sorgen, dass bestimmte internationale Abkommen im Bereich Umweltschutz und Menschenrechte von ihnen und entlang der gesamten Lieferkette auch von unmittelbaren und mittelbaren Zuliefer- und Abnehmerunternehmen eingehalten werden; er geht hierbei sachlich und in seinen Haftungskonsequenzen für Unternehmen und Organe deutlich über das deutsche LkSG hinaus. Der CSRD kommt nichts Geringeres als die Aufgabe zu, mit den Mitteln der Berichterstattung den „Übergang zu einem vollständig inklusiven Wirtschafts- und Finanzsystem im Einklang mit dem Green Deal (der EU-Kommission) und den Zielen der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung“ zu bewirken. Nach ihren Erwägungsgründen sollen die jährlichen Nachhaltigkeitsberichte nicht nur Kapitalgebern, sondern allen „Bürgerinnen und Bürgern“, namentlich „Akteuren der Zivilgesellschaft, einschließlich Nichtregierungsorganisationen und Sozialpartnern, [dienen], die Unternehmen im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf Mensch und Umwelt stärker in die Verantwortung nehmen wollen“. Ferner sind Bußgeld- und Ächtungssanktionen vorgesehen. „Reporting“ soll „Performance“ bewirken. Mit diesem Ziel entfalten die vielfältigen Regelungen Wechselwirkungen, ergänzen und verstärken einander. Sie eröffnen als „multiple verbundene Eingriffe“ neue Pflicht- und Haftungswelten. Der Beitrag stellt die Regelungen in ihren Wechselwirkungen dar. In einem gesonderten Beitrag (Reuter, ESG und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Schranke der multiplen Pflichten- und Haftungsvermehrung, erscheint demnächst in ZIP 2023, unter II) wird der Verfasser den sich gegenseitig verstärkenden Haftungskonsequenzen der ESG-Vorgaben nachgehen und erörtern, ob der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der Vertrauensgrundsatz den multiplen ESG-Vorgaben auf dem Weg vom „Reporting“ zur „Performance“ rechtliche Schranken setzen. Ferner wird er Überlegungen zur praktischen Umsetzung der ESG-Vorgaben in den erfassten Unternehmen skizzieren.

I. Thema und Gang der Darstellung
1. Einleitung
2. ESG-Vorgaben als multiple verbundene Eingriffe
3. Gegenstand des Artikels und daraus abgeleitete Fragen
II. ESG-Vorgaben im Einzelnen
1. CSRD und European Sustainability Reporting Standards (ESRS) der EFRAG
a
) CSRD
b) ESRS
c) Harmonisierung mit internationalen Vorgaben?
d) Zwischenfazit
2. Entwurf der CSDDD
a) Ziel
b) Sorgfaltspflicht
aa) Einbeziehung der Sorgfaltspflicht in ihre Unternehmenspolitik (Art. 5)
bb) Ermittlung tatsächlicher oder potentieller negativer Auswirkungen (Art. 6)
cc) Vermeidung und Abschwächung potentieller negativer Auswirkungen, Behebung tatsächlicher negativer Auswirkungen und Minimierung ihres Ausmaßes (Art. 7, 8)
dd) Begleitvorgaben
c) Pariser Klimaübereinkommen
d) Konsequenzen bei Verstößen: Bußgelder, Ächtung, Haftung von Unternehmen und Organen
e) Organhaftung
f) Vergleich LkSG – CSDDD-E
g) Zwischenfazit
3. Weitere EU-Vorgaben
a) OffenlegungsVO (TransparenzVO)
b) TaxonomieVO
aa) Die Verordnung
bb) Aufsichtsrechtliche und finanzwirtschaftliche Weiterungen
c) Whistleblower-Richtlinie
III. Fazit: Die ESG-Vorgaben als multiple, verbundene und tiefe Eingriffe
1. Integrierte Wirkweise der verschiedenen ESG-Vorgaben
2. Die Frage der Verhältnismäßigkeit
3. Rechtspolitische Ergänzung


I. Thema und Gang der Darstellung

1. Einleitung

Unter den Titeln „Corporate Social Responsibility“ (CSR) und „Environment/Social/Governance“ (ESG) erlassen EU und Mitgliedstaaten derzeit viele Regelwerke für Unternehmen, die Klima und Umwelt („E“/Environment), soziale Anliegen („S“/Social), insbesondere Menschenrechte, schützen und eine gute Unternehmensführung („G“/Governance) befördern sollen. Zu den Regelwerken gehören z.B. die Taxonomie-Verordnung der EU, das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtgesetz (LkSG), die Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichtserstattung der Unternehmen (Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD)) der EU sowie deren Entwürfe für eine Corporate Sustainability Due Diligence Directive (CSDDD-E) und eine Directive on Substantiation and Communication of Explicit Environmental Claims (Green Claims Directive). Dabei setzen die genannten Regelwerke bei „E“ (Environment) oder „S“ (Social) grundsätzlich keine eigenständigen inhaltlichen Ziele (z.B. niedrigere Grenzwerte oder verstärkter Arbeitsschutz), sondern knüpfen an bereits bestehende (nationale und internationale) Regelwerke an, erklären diese für verbindlich und schreiben die Berichterstattung über die Aktivitäten der Unternehmen auf diesen Gebieten vor (Nachhaltigkeitsberichterstattung). Bei „G“ (Governance) wiederum werden Unternehmen Vorgaben über ihre Organisation gemacht; insbesondere sollen sie organisatorische Vorkehrungen zur Abwehr und Früherkennung von Risiken für die langfristige Überlebensfähigkeit der Unternehmen oder für Verstöße gegen Vorgaben der Bereiche E und S treffen (Compliance Management).

2. ESG-Vorgaben als multiple verbundene Eingriffe
Die ESG-Vorgaben setzen in vielfacher Weise an: Die CSRD verpflichtet die erfassten Unternehmen erstens jährlich zu retrospektiver Berichterstattung über ESG-Aspekte („Nachhaltigkeitsaspekte“) in einem neuen Teil des Lageberichts, dem Nachhaltigkeitsbericht. Sie enthält zweitens Pflichten, sich dort zur Einschätzung künftiger Entwicklungen bei den Nachhaltigkeitsaspekten zu erklären (prospektive Berichterstattung). Nach dem CSDDD-E sollen drittens die Unternehmen dafür sorgen, dass bestimmte internationale Abkommen (ungeachtet deren eigener völkerrechtlicher Qualität) im Bereich Umweltschutz und Menschenrechte entlang der gesamten Lieferkette auch von unmittelbaren und mittelbaren Zuliefer- und Abnehmerunternehmen eingehalten werden. Viertens vertraut der CSDDD-E (wie das LkSG) nicht darauf, dass die Unternehmen angemessene Mittel und Wege finden, die betreffenden Vorgaben einzuhalten, sondern macht organisatorische Vorgaben (Organisationspflicht). Fünftens verlangt die CSRD von den Unternehmen wiederum, darüber zu berichten, wie sie sich zur Einhaltung der ESG-Vorgaben (auch der künftigen CSDDD) organisiert haben (Organisationsberichterstattung). Sechstens verpflichtet die CSRD die Unternehmen, über ihre Maßnahmen „zur Verhinderung, Minderung, Behebung oder Beendigung tatsächlicher oder potenzieller negativer Auswirkungen [auf Nachhaltigkeitsaspekte] und des Erfolgs dieser Maßnahmen“ zu berichten; Unternehmen müssen sich also gegebenenfalls selbst bezichtigen. Siebtens müssen sie nach der CSRD namentlich über Organisation, Zuständigkeiten und Expertise ihrer Leitungs- und Aufsichtsorgane berichten. Achtens sehen CSRD und CSDDD-E Bußgeldsanktionen bei Verstößen vor, der CSDDD-E auch Ächtungssanktionen (public enforcement). Der CSDDD-E sieht neuntens zwingend (und anders als das LkSG) zivilrechtliche Schadensersatzansprüche vor (private enforcement); die Nachhaltigkeitsberichterstattung nach CSRD soll und wird Klägern hierfür dienstbar sein, da die CSRD nach Erwägungsrund (9) nicht nur Kapitalgebern, sondern allen „Bürgerinnen und Bürger“, namentlich „Akteuren der Zivilgesellschaft, einschließlich Nichtregierungsorganisationen und Sozialpartnern, [dienen soll], die Unternehmen im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf Mensch und Umwelt stärker in die Verantwortung nehmen wollen“. Zehntens sehen CSRD und CSDDD-E nicht nur unternehmensinterne Pflichten vor, die nach dem Vorbild von § 43 GmbHG, § 93 AktG Ansprüche der Unternehmen gegen Organe nach sich ziehen können; vielmehr dient die CSRD, wie dargelegt ausdrücklich unternehmensexternen Dritten (so z.B. „Interessenträgern“ aller Art und Verbänden), und der CSDDD-E verpflichtet die Unternehmen, Nachhaltigkeitspläne mit „Interessenträgern“ aller Art abzustimmen. Die beschriebenen zehn Zugriffsweisen sind mithin vielfältig, aufeinander abgestimmt und verstärken einander (multiple verbundene Eingriffe).

3. Gegenstand des Artikels und daraus abgeleitete Fragen
Gegenstand des vorliegenden Artikels ist es, die neuen ESG-Vorgaben in ihrem Zusammenhang, ihrer Wechselbezüglichkeit und ihren Implikationen darzustellen (Abschnitt II). Der Schwerpunkt liegt auf der CSRD und dem CSDDD-E als ESG-Kernstücke; die Darstellung wird durch die Skizze einiger anderer, die ESG-Eingriffe verstärkende Rechtsakte ergänzt. Abschnitt III enthält ein Fazit und einen rechtspolitischen Ausblick.

In einem gesonderten Beitrag wird der Verfasser sich hieraus ergebenden, weiteren Fragen nachgehen. Hierzu wird zunächst dargestellt, wie sich die im vorliegenden Artikel dargestellten Pflichten auf die Haftung der Unternehmen und ihrer Organe auswirken. Sind die ESG-Vorgaben und die sich aus ihnen ergebende Pflichten- und Haftungsvermehrung multiple, verbundene Eingriffe in Freiheit und Eigentum der betroffenen Unternehmen (und ihrer Organe), so bedürfen sie der Rechtfertigung und müssen verhältnismäßig sein. Der weitere Beitrag wird daher zum einen der Frage nachgehen, ob der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit den ESG-Vorgaben spürbare Schranken setzt, und zum anderen praktische Überlegungen für den Umgang mit den ESG-Vorgaben skizzieren.

II. ESG-Vorgaben im Einzelnen
Für die vorliegenden Zwecke lassen sich die Vorgaben der CSRD und des CSDDD-E sowie einiger weiterer EU-Rechtsakte, mit denen sie wechselwirken, wie folgt skizzieren:

1. CSRD und European Sustainability Reporting Standards (ESRS) der EFRAG

a) CSRD

Nach ihren Erwägungsgründen 1 und 2 knüpft die CSRD an den „Green Deal“ der Kommission als die „neue Wachstumsstrategie der Union“ an, die „darauf ab[zielt]“, die Union bis 2050 zu einer modernen, ressourcenschonenden und wettbewerbsfähigen Wirtschaft ohne Netto- Treibhausgasemissionen zu machen. Der Green Deal soll „... das Naturkapital der Union schützen, bewahren und verbessern und die Gesundheit und das Wohlergehen der Unionsbürgerinnen und -bürger vor umweltbedingten Risiken und Auswirkungen schützen“. Ziel der CSRD ist es in diesem Rahmen, dass Unternehmen (über die bisher geltende Richtlinie zur Nichtfinanziellen Berichterstattung („NFRD“) hinaus) verlässlich und vergleichbar über ihre „Nachhaltigkeit“ Bericht erstatten, um es „Interessenträgern“ zu ermöglichen, das Unternehmen nicht nur hinsichtlich seiner Vermögens‑, Finanz- und Ertragslage, sondern auch hinsichtlich seiner „Nachhaltigkeit“ zu bewerten. „Interessenträger“ sind dabei, wie erwähnt, nach Erwägungsrund (9) nicht nur Kapitalgeber, sondern alle „Bürgerinnen und Bürger“, namentlich „Akteure der Zivilgesellschaft, einschließlich Nichtregierungsorganisationen und Sozialpartner, die Unternehmen im Hinblick auf...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 16.08.2023 11:22
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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