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EuGH, C-206/22: Schlussanträge des Generalanwalts vom 4.5.2023

Gelten in Quarantäne verbrachte Urlaubstage als verbraucht?

Der Generalanwalt am EuGH ist der Ansicht, dass das Unionsrecht nicht vorschreibt, dass bezahlter Jahresurlaub, der mit einer Quarantäne zusammenfällt, die von einer Behörde wegen der Exposition eines Arbeitnehmers gegenüber dem Virus SARS-CoV‑2 angeordnet wird, verschoben wird.

Der Sachverhalt:
TF, der seit 2003 bei der Sparkasse Südpfalz beschäftigt ist, war für den Zeitraum vom 3. bis zum 11. Dezember 2020 bezahlter Jahresurlaub bewilligt worden. Am 2. Dezember 2020 ordnete die Kreisverwaltung Germersheim (Deutschland) für TF, weil er am Arbeitsplatz mit einer mit dem Virus SARS-CoV‑2 infizierten Person Kontakt gehabt habe, gemäß § 28 des Infektionsschutzgesetzes für den Zeitraum vom 2. bis zum 11. Dezember 2020 die Quarantäne an, die TF zu Hause im Bereich seines Schlafzimmers und des Badezimmers verbringen musste.

Für den Zeitraum der angeordneten Quarantäne verlangte TF am 4. März 2021 die Gutschrift des bezahlten Jahresurlaubs. Die Sparkasse Südpfalz lehnte dies ab. TF erhob daraufhin beim Arbeitsgericht Ludwigshafen am Rhein Klage.

Das Arbeitsgericht Ludwigshafen am Rhein weist darauf hin, dass der Arbeitnehmer in Fällen wie dem des Ausgangsverfahrens nach der herrschenden Auffassung der deutschen Gerichte keinen Anspruch auf die Nichtanrechnung des bezahlten Jahresurlaubs auf Zeiträume einer staatlich angeordneten Quarantäne habe.

§ 1 BUrIG habe ausschließlich die Freistellung von der Arbeitspflicht und die Zahlung des Urlaubsentgeltes zum Gegenstand. Deshalb fielen alle danach eintretenden störenden Ereignisse als Teil des persönlichen Lebensschicksals grundsätzlich in den Risikobereich des Arbeitnehmers. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz sehe das deutsche Recht für den Fall vor, dass der Arbeitnehmer in der bewilligten Urlaubszeit ärztlich bescheinigt arbeitsunfähig werde. Wenn der Arbeitnehmer nicht arbeitsunfähig sei, sei diese Ausnahme nach Auffassung der deutschen Gerichte auf Fälle der behördlich angeordneten Quarantäne aber nicht anzuwenden.

Das Arbeitsgericht Ludwigshafen am Rhein fragt sich, ob dieser Ansatz mit der Auslegung von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 und von Art. 31 Abs. 2 der Charta durch den Gerichtshof vereinbar ist. Es hat deshalb im März 2022 beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem EuGH folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Sind Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 und das in Art. 31 Abs. 2 der Charta verankerte Recht auf bezahlten Jahresurlaub dahin gehend auszulegen, dass sie einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten zur Gewährung von Erholungsurlaub für Arbeitnehmer entgegenstehen, nach denen eine Erfüllung des Urlaubsanspruchs auch dann eintritt, wenn der Arbeitnehmer während eines genehmigten Urlaubs von einem unvorhersehbaren Ereignis wie vorliegend einer staatlich angeordneten Quarantäne betroffen ist und deswegen an der uneingeschränkten Ausübung des Anspruchs gehindert wird?

Die Schlussanträge des Generalanwalts:
Der Generalanwalt kommt zu dem Schluss, dass das Unionsrecht nicht vorschreibt, dass bezahlter Jahresurlaub, der mit einer Quarantäne zusammenfällt, die von einer Behörde wegen der Exposition eines Arbeitnehmers gegenüber dem Virus SARS-CoV‑2 angeordnet wird, verschoben wird. Er schlägt dem EuGH daher vor, dem Arbeitsgericht Ludwigshafen am Rhein (Deutschland) wie folgt zu antworten:

Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

sind wie folgt auszulegen:

Sie stehen einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten, nach denen bezahlter Jahresurlaub, der einem Arbeitnehmer bewilligt worden ist, wenn er mit einer von einer Behörde wegen eines Kontakts des Arbeitnehmers zu einer mit einem Virus infizierten Person angeordneten Quarantäne zusammenfällt, nicht auf einen anderen Zeitraum als den ursprünglich festgelegten verschoben werden kann, nicht entgegen.

+++ Anmerkung: +++
Der Fall betrifft die Rechtslage vor der Änderung des § 59 IfSG. Seit dem 17.9.2022 gilt nach § 59 Abs. 1 IfSG, dass die Tage der Absonderung nicht auf den Jahresurlaub angerechnet werden, wenn sich ein Beschäftigter während seines Urlaubs in Absonderung begeben muss.

Noch nicht entschieden hat der EuGH über die ganz ähnliche Vorlagefrage des BAG:
Vorlage an den EuGH: Pflicht zur Nachgewährung von Urlaub bei Anordnung häuslicher Quarantäne?
BAG vom 16.8.2022 - 9 AZR 76/22 (A)
Sascha Schewiola, ArbRB 2023, 4


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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 08.05.2023 15:28
Quelle: EuGH online

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