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LG Köln v. 11.1.2023 - 12 O 60/22

Lebensversicherung: Widerspruch nach 29 Jahren ist rechtsmissbräuchlich

Es kann nach den Umständen des Einzelfalls die Ausübung des Widerspruchsrechts (hier: nach 29 Jahren) unzulässig sein und sich als grob widersprüchliches und damit gegen den Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) verstoßendes Verhalten des Versicherungsnehmers darstellen, da besondere Gegebenheiten die Annahme rechtfertigen können, dass der Versicherer berechtigterweise mit einem Widerspruch des Versicherungsnehmers nicht mehr rechnen musste und auch der Versicherungsnehmer insoweit nicht mehr schutzwürdig ist.

Der Sachverhalt:
Die Klägerin hatte im November 1994 bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten eine fondsgebundene Lebensversicherung abgeschlossen. Auf Seite 1 des Antragsformulars war folgende Belehrung enthalten:

„Wichtig für den Antragsteller:

Ich kann meinen Antrag auf Lebensversicherung innerhalb von 10 Tagen nach seiner Unterzeichnung widerrufen, und zwar auch dann, wenn der Versicherer ihn bereits angenommen hat. Mein Widerruf wird nur wirksam, wenn er in schriftlicher Form innerhalb der genannten Frist beim Versicherer eingegangen ist.“


Da die Versicherung zum 1.12.2009 vereinbarungsgemäß ablief, bat die Klägerin nach entsprechenden Ablaufankündigungen der Beklagten um Übertragung der Anteilseinheiten in ein Depot anstelle der Auszahlung. Die Beklagte rechnete das Vertragsverhältnis entsprechend ab und erbrachte eine Ablaufleistung von rund 83.832 €.

Am 4.11.2021 erklärte die Klägerin den Widerspruch zu der streitgegenständlichen Versicherung. Diesen wies die Beklagte zurück. Die Klägerin war der Ansicht, sie habe sich mangels ordnungsgemäßer Belehrung auch noch im Jahr 2021 von dem Vertrag lösen können und begehrte von der Beklagten 28.431 € sowie Erstattung der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten. Die Beklagte war u.a. der Auffassung, die Ausübung des Widerspruchsrechts sei rechtsmissbräuchlich erfolgt.

Das LG hat die Klage abgewiesen.

Die Gründe:
Die Klägerin hat gegen die Beklagte aus keinem rechtlichen Gesichtspunkt einen Anspruch auf Erstattung auf den zwischen den Parteien geschlossenen Versicherungsvertrag geleistete Prämien. Ein solcher Anspruch ergab sich insbesondere nicht aus § 812 Abs. 1 Satz 1, 1. Alt., 818 Abs. 1 BGB, denn die Beklagte hatte die Beitragszahlungen nicht ohne rechtlichen Grund erhalten. Unerheblich war, ob die Klägerin bei Antragstellung oder Übersendung des Versicherungsscheins gem. § 5a VVG a.F. oder § 8 VVG a.F. wirksam belehrt worden war. Die Klägerin konnte sich jedenfalls nicht wirksam auf den erklärten Widerspruch berufen.

Nach den besonderen Umständen des Einzelfalles ist die Geltendmachung des Widerspruchsrechts bzw. des Bereicherungsanspruchs rechtsmissbräuchlich und stellt sich als unzulässige Rechtsausübung gem. § 242 BGB dar. Aufgrund widersprüchlichen Verhaltens der Klägerin durfte die Beklagte in schutzwürdiger Weise darauf vertrauen, dass der Vertrag unbedingten Bestand haben würde. Die Wirksamkeit der verwendeten Widerspruchsbelehrung konnte deshalb offenbleiben. Es kann nach den Umständen des Einzelfalls die Ausübung des Widerspruchs-, Widerrufs- oder Rücktrittsrechts unzulässig sein und sich als grob widersprüchliches und damit gegen den Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) verstoßendes Verhalten des Versicherungsnehmers darstellen, da besondere Gegebenheiten die Annahme rechtfertigen können, dass der Versicherer berechtigterweise mit einem Widerspruch des Versicherungsnehmers nicht mehr rechnen musste und auch der Versicherungsnehmer insoweit nicht mehr schutzwürdig ist.

Vorliegend hat die Klägerin den im Jahr 1994 geschlossenen Vertrag unter Inanspruchnahme des Versicherungsschutzes beanstandungslos geführt und die vereinbarten Prämien gezahlt. Der Klägerin war durch die Belehrung im Antrag bekannt, dass ein Widerspruchsrecht grundsätzlich bestand. Lediglich im Hinblick auf Dauer der Frist zur Ausübung des Widerrufsrechts könnte die Klägerin, im Unklaren gewesen sein. Insoweit ist es ausreichend, dass die Klägerin nach Hinnahme des Vertragsablaufes und Abrechnung zum 1.12.2009 weitere 12 Jahre und damit 29 Jahre nach Vertragsschluss wartete bis sie den Widerruf erklärte.

Die Klägerin hat durch ihr Verhalten den Anschein erweckt, dass aufgrund der ursprünglich fehlerhaften Widerrufsbelehrung keine Rechte mehr geltend gemacht würden. Insbesondere im Hinblick auf den besonders langen Zeitraum zwischen Vertragsschluss und Widerspruchserklärung, kann den in der Rechtsprechung geforderten weiteren Umständen auch keine zu hohe Bedeutung abverlangt werden. Vor dem Hintergrund, dass es der Zweck des Widerspruchsrechts ist, dem Versicherungsnehmer, der sich möglicherweise voreilig zu einem Vertragsabschluss entschieden hat, eine rechtliche Handhabe zu geben, um den Vertrag nicht fortsetzen zu müssen und dem langen Zeitraum zwischen Vertragsschluss und Widerspruch, genügen die aufgezeigten Vertragseinwirkungen, um aufgrund dieser Einzelumstände ein widersprüchliches und rechtsmissbräuchliches Verhalten der nicht mehr schutzbedürftigen Klägerin anzunehmen.

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 14.03.2023 16:12
Quelle: Justiz NRW

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