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EuGH, C-520/21: Schlussanträge des Generalanwalts vom 16.2.2023

Missbräuchliche Klauseln: Ansprüche bei Nichtigerklärung eines Darlehnsvertrags

Nach der Nichtigerklärung eines Hypothekendarlehensvertrags wegen missbräuchlicher Vertragsklauseln können Verbraucher gegen Banken Ansprüche geltend machen, die über die Rückerstattung der erbrachten Geldleistungen hinausgehen; Banken dagegen ist dies verwehrt. Es ist Sache der nationalen Gerichte, nach Maßgabe des nationalen Rechts zu bestimmen, ob Verbraucher zur Geltendmachung derartiger Ansprüche berechtigt sind, und ggf. über deren Begründetheit zu entscheiden.

Der Sachverhalt:
Im Jahr 2008 schlossen der Kläger und seine Ehefrau mit der beklagten Bank einen Hypothekendarlehensvertrag für den Bau eines Hauses. Der Darlehensbetrag lautete auf polnische Zloty (PLN) und wurde in PLN ausgezahlt, war jedoch - wie Tausende anderer Hypothekendarlehen, die Verbrauchern in Polen seit Anfang der 2000er Jahre gewährt wurden - an den Schweizer Franken (CHF) gekoppelt. Die mtl. Darlehensraten waren in PLN nach Umrechnung auf der Grundlage des in der am Tag der Fälligkeit jeder Rate geltenden Devisenkurstabelle der Bank veröffentlichten CHF-Verkaufskurses zu zahlen.

Der Kläger ist der Ansicht, dass der betreffende Darlehensvertrag missbräuchliche Klauseln enthalte und daher nach polnischem Recht insgesamt nichtig sei, und erhob bei dem zuständigen polnischen Gericht Klage. Er trägt vor, die Beklagte habe die mtl. Darlehensraten ohne jede gesetzliche oder vertragliche Grundlage erhalten und von ihnen profitiert. Er begehrt von der Beklagten die Zahlung von Schadensersatz für die Nutzung seiner Gelder ohne vertragliche Grundlage, für die entgangene Möglichkeit zur Erzielung von Einkünften mit diesen Geldern, da sie ihm vorübergehend nicht zur Verfügung gestanden hätten, und für den Kaufkraftverlust der der Bank überlassenen Gelder.

Das vorlegende Gericht möchte vom EuGH wissen, ob die Richtlinie 93/13/EWG über missbräuchliche Klauseln sowie die Grundsätze der Effektivität, der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen sind, dass sie einer Auslegung nationaler Vorschriften entgegenstehen, nach der dann, wenn ein zwischen einem Verbraucher und einer Bank geschlossener Darlehensvertrag insgesamt für nichtig erklärt wird, die Parteien über die Rückerstattung der von ihnen aufgrund dieses Vertrags gezahlten Geldleistungen und die Zahlung von Verzugszinsen zum gesetzlichen Zinssatz ab dem Tag der Rückforderung hinaus Ansprüche gegeneinander geltend machen können.

Die Gründe:
Die Richtlinie regelt die Folgen der Feststellung, dass ein Verbrauchervertrag nach dem Wegfall seiner missbräuchlichen Klauseln rechtlich nicht existiere, nicht. Diese Folgen werden von den Mitgliedstaaten in ihrem nationalen Recht unter Beachtung des Unionsrechts festgelegt.

Die Richtlinie steht nationalen Rechtsvorschriften - oder nationaler Rechtsprechung zur Auslegung dieser Vorschriften - nicht entgegen, die es dem Verbraucher erleichtern, Ansprüche geltend zu machen, die über die Rückforderung der aufgrund des nichtigen Hypothekendarlehensvertrags gezahlten Raten und die Zahlung von Verzugszinsen zum gesetzlichen Zinssatz ab dem Tag der Rückforderung hinausgehen. Es ist indessen Sache des nationalen Gerichts, nach Maßgabe des nationalen Rechts zu bestimmen, ob Verbraucher zur Geltendmachung derartiger Ansprüche berechtigt seien, und ggf. über deren Begründetheit zu entscheiden. Dieses Ergebnis entspricht dem mit der Richtlinie verfolgten Ziel, ein hohes Maß an Verbraucherschutz zu gewähren. Der Verbraucher ist an eine missbräuchliche Klausel nicht gebunden. Demzufolge ist für ihn die Sach- und Rechtslage wiederherzustellen, in der er sich befunden hätte, wenn diese Klausel überhaupt nicht in den Vertrag aufgenommen worden wäre. Die Möglichkeit, weitergehende Ansprüche geltend zu machen, kann Verbraucher darin bestärken, die ihnen aus der Richtlinie erwachsenden Rechte wahrzunehmen, während sie Banken von der Aufnahme missbräuchlicher Klauseln in ihre Verträge abhält.

Hinsichtlich der Möglichkeit der Bank, Ansprüche ähnlicher Natur gegen Verbraucher geltend zu machen, verhält es sich genau entgegengesetzt. Eine Bank ist nicht berechtigt, gegen einen Verbraucher Ansprüche geltend zu machen, die über die Rückerstattung des überlassenen Darlehenskapitals und die Zahlung von Verzugszinsen in gesetzlicher Höhe ab dem Tag der Rückforderung hinausgehen. Die Nichtigerklärung eines Hypothekendarlehensvertrags ergibt sich als Folge daraus, dass die Bank eine missbräuchliche Klausel in diesen Vertrag aufgenommen hat. Einem Gewerbetreibenden darf kein wirtschaftlicher Vorteil aus einer Situation erwachsen, die er durch sein eigenes rechtswidriges Verhalten geschaffen hat. Außerdem würde dann die Bank nicht davon abgehalten, in Darlehensverträgen mit Verbrauchern missbräuchliche Klauseln zu verwenden, wenn sie trotz Nichtigerklärung dieser Verträge von Verbrauchern eine marktübliche Vergütung für die Nutzung des Darlehenskapitals verlangen könnte. In diesem Fall könnte es für die Bank sogar profitabel werden, Verbrauchern missbräuchliche Klauseln aufzuerlegen.

Darlehensnehmer sind im Allgemeinen nicht in der Lage, vor der Entscheidung, ob es in ihrem Interesse ist, missbräuchliche Klauseln in ihren Darlehensverträgen anzufechten, den Betrag, den die Bank von ihnen fordern kann, zu beurteilen. Angesichts der Komplexität und Ermessensabhängigkeit der Kriterien, nach denen die Banken die Vergütung für die Nutzung des Darlehenskapitals berechnen, und des Umstands, dass die geforderten Beträge für gewöhnlich unmittelbar auf Anforderung gezahlt werden müssen, können Verbraucher umso mehr davon abgehalten werden, ihre Rechte aus der Richtlinie geltend zu machen. Eine solche Situation würde der Richtlinie ihre Wirksamkeit nehmen und zu einem Ergebnis führen, dass im Gegensatz zu den mit ihr verfolgten Zielen steht. Der Argumentation mit der Stabilität der Finanzmärkte in Polen kommt im Kontext der Auslegung der Richtlinie, mit der vor allem Verbraucherrechte geschützt werden sollen, kein Gewicht zu. Banken sind als auf der Grundlage des Rechts gegründete Rechtssubjekte verpflichtet, ihre Geschäftstätigkeit so zu gestalten, dass sie mit allen seinen Bestimmungen im Einklang steht.

Mehr zum Thema:

Rechtsprechung:
Keine Schadensersatzhaftung des Verbrauchers bei Fortbestand des Vertrags trotz missbräuchlicher Schadensersatzklausel
EuGH vom 08.12.2022 - C-625/21
ZIP 2023, 148

Rechtsprechung:
Bei missbräuchlicher Klausel in Verbrauchervertrag kein Rückgriff auf dispositives Recht bei fehlender Nichtigkeit des Gesamtvertrags („D.B.P.“)
EuGH vom 08.09.2022 - C-80/21-C-82/21
ZIP 2022, 1910

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 17.02.2023 13:02
Quelle: EuGH PM Nr. 36 vom 16.2.2023

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