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BGH v. 10.1.2023 - VI ZR 67/20

Umfang der Haftung des Automobilherstellers ggü. dem Fahrzeug-Käufer in sog. Dieselfall: Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten

Zum Umfang der Haftung eines Automobilherstellers nach §§ 826, 31 BGB ggü. dem Käufer des Fahrzeugs in einem sog. Dieselfall (hier: Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten).

Der Sachverhalt:
Die Klägerin nimmt die beklagte Automobilherstellerin wegen Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung für die Abgasreinigung eines Kraftfahrzeugs auf Schadensersatz in Anspruch.

Die Klägerin erwarb im April 2015 bei einem Autohaus einen von der Beklagten hergestellten VW Tiguan 2.0 TDI zu einem Kaufpreis von 25.390 €. Das Fahrzeug ist mit einem Dieselmotor des Typs EA189 ausgestattet. Dieser Motor enthält werkseitig eine Steuerungssoftware, die zu einer Veränderung der Stickoxid-Emissionswerte im behördlichen Prüfverfahren beiträgt und bewirkt, dass auf dem Prüfstand geringere Stickoxid-Werte als im Normalbetrieb ausgestoßen werden.

Streitig war hier insbesondere die Erstattung der von der Klägerin zur Rechtsverteidigung gegen eine vom Landratsamt nach Klageerhebung angedrohte Stilllegung des streitgegenständlichen Fahrzeugs aufgewandten Rechtsanwaltskosten.

Das LG wies die Klage ab.

Im Berufungsverfahren beantragte die Klägerin, die Beklagte zu verurteilen, sie von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von ca. 1.100 € freizustellen und ihr im Hinblick auf die angedrohte Stilllegung des Fahrzeugs entstandene Rechtsanwaltskosten in Höhe von 653 € nebst Zinsen zu erstatten.

Das KG hat auf die Berufung der Klägerin hin das landgerichtliche Urteil abgeändert und festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin Schadensersatz, ggf. abzüglich einer Nutzungsentschädigung, zu zahlen für Schäden, die aus der Manipulation des streitgegenständlichen Fahrzeugs resultieren.

Der BGH hat die Revision teilweise abgewiesen.

Die Gründe:
Unbegründet ist die Revision der Beklagten, soweit sie sich gegen die Verurteilung zur Erstattung der von der Klägerin zur Rechtsverteidigung gegen die vom Landratsamt nach Klageerhebung angedrohte Stilllegung des streitgegenständlichen Fahrzeugs aufgewandten Rechtsanwaltskosten wendet. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, dass der Klägerin insoweit ein Schadensersatzanspruch nach §§ 826, 31, 249 BGB zusteht, lässt keine Rechtsfehler erkennen.

Dem Grunde nach steht in Fällen wie dem vorliegenden, in denen vor Bekanntwerden des sogenannten Dieselskandals ein Fahrzeug mit dem Motorentyp EA189 erworben wurde, dessen Abgasreinigung wegen Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung vom Kraftfahrtbundesamt beanstandet worden ist, dem Käufer gegen den Hersteller, hier also der Klägerin gegen die Beklagte, ein Schadensersatzanspruch wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung nach §§ 826, 31 BGB zu.

Die Bemessung der - hier in Gestalt der geltend gemachten Rechtsanwaltskosten in Rede stehenden - Höhe des Schadensersatzanspruchs ist in erster Linie Sache des nach § 287 ZPO besonders frei gestellten Tatrichters. Sie ist revisionsrechtlich nur daraufhin überprüfbar, ob der Tatrichter Rechtsgrundsätze der Schadensbemessung verkannt, wesentliche Bemessungsfaktoren außer Betracht gelassen oder seiner Schätzung unrichtige Maßstäbe zugrunde gelegt hat.

Das ist hier nicht der Fall: Der dem Geschädigten zustehende Schadensersatzanspruch umfasst grundsätzlich auch den Ersatz der durch das Schadensereignis erforderlich gewordenen Rechtsverfolgungskosten. Nach der ständigen Rechtsprechung des BGH hat der Schädiger allerdings nicht schlechthin alle durch das Schadensereignis adäquat verursachten Rechtsanwaltskosten zu ersetzen, sondern nur solche, die für den Geschädigten zur Wahrnehmung seiner Rechte erforderlich und zweckmäßig waren, wobei insoweit die Sicht des Geschädigten mit Rücksicht auf seine spezielle Situation maßgeblich ist.

Nach diesen Maßstäben ist nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht die Kosten, die der Klägerin durch die Beauftragung eines Rechtsanwalts im Hinblick auf das vom Landratsamt eingeleitete Stilllegungsverfahren entstanden sind, als im Rahmen des großen Schadensersatzes ersatzfähige Schadensposition angesehen hat.

Die Androhung der Stilllegung war eine adäquate Folge der haftungsbegründenden Verwendung der unzulässigen Abschalteinrichtung. Mit ihr konkretisierte sich das von der Beklagten verursachte Risiko einer Betriebsbeschränkung oder -untersagung, das bereits bei Abschluss des Kaufvertrages über das bemakelte Fahrzeug zu einem - primären - Schaden des Käufers führte. Die durch die Konkretisierung oder Verwirklichung des Stilllegungsrisikos verursachten Kosten - hier in Form der Kosten der Rechtsverteidigung gegen die Stilllegung - könnten zwar nicht gesondert neben dem sogenannten kleinen Schadensersatz geltend gemacht werden. Denn sie wären in diesem Fall bereits in die Bemessung des Minderwertes des Fahrzeugs zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses "eingepreist". Richtet sich das Klagebegehren wie vorliegend jedoch auf den sogenannten großen Schadensersatz, sind diese Kosten neben dem Anspruch auf Erstattung des Kaufpreises grundsätzlich eine eigenständig ersatzfähige Schadensposition. Anders als die Beklagte meint, sind Kosten, die auf der Konkretisierung oder Verwirklichung des Risikos einer Betriebsbeschränkung oder -untersagung beruhen, rechtlich anders zu behandeln als Aufwendungen, die zu den gewöhnlichen Unterhaltskosten für das Fahrzeug zählen und nach der Senatsrechtsprechung, wie bereits ausgeführt, nicht ersatzfähig sind.

Zu Recht hat das Berufungsgericht auch angenommen, dass die Inanspruchnahme von anwaltlicher Beratung bezüglich der angedrohten Stilllegung des streitgegenständlichen Fahrzeugs aus Sicht der Klägerin in ihrer speziellen Situation erforderlich und zweckmäßig war. Die Klägerin musste entscheiden, ob sie die behördliche Anordnung akzeptieren und entweder das von der Beklagten angebotene Software-Update aufspielen lassen oder das Fahrzeug stilllegen sollte. Dabei waren auch die möglichen - rechtlichen - Auswirkungen dieser Entscheidung auf die bereits gegen die Beklagte geltend gemachten Ansprüche und die tatsächlichen - wirtschaftlichen - Folgen von Bedeutung. In dieser komplexen Situation ist die Beauftragung eines Rechtsanwalts mit der Vertretung im behördlichen (Widerspruchs-)Verfahren nachvollziehbar.

Entgegen der Auffassung der Beklagten steht der Erstattungsfähigkeit der Rechtsanwaltskosten auch nicht entgegen, dass die Klägerin die förmliche Androhung der Stilllegung durch ein rechtzeitiges Aufspielen des Software-Updates hätte vermeiden können. In der Entscheidung der Klägerin, das Software-Update zunächst nicht aufspielen zu lassen, liegt kein anspruchsminderndes oder -ausschließendes Mitverschulden im Sinne des § 254 BGB, selbst wenn, wie die Beklagte geltend macht, mit dem Update keinerlei negative Auswirkungen verbunden gewesen wären. Denn gerade im Hinblick auf die von der Klägerin nicht ohne weiteres zu beantwortende Frage, ob das Aufspielen der Software für sie mit rechtlichen oder tatsächlichen Nachteilen verbunden sein könnte, war aus Sicht der Geschädigten eine anwaltliche Beratung erforderlich und zweckmäßig.

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 06.02.2023 14:17
Quelle: BGH online

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