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EuGH: Beherrschende Stellung eines Unternehmens – Zurechnung des Verhaltens der Vertriebshändler

In einer kartellrechtlich höchst bedeutsamen Entscheidung hatte der EuGH, Urt. v. 19.1.2023 – C-680/20 – Unilever Italia Mkt. Operations, auf Vorlage des Consiglio di Stato über die unionsrechtlich gebotene Auslegung des Kartellverbots nach Art. 101 AEUV in einem Rechtsstreit zu urteilen, der zwischen Unilever und der italienischen Wettbewerbs- und Marktaufsichtsbehörde (AGCM) zur Entscheidung anstand. Der Vorwurf: Unilever habe seine beherrschende Stellung beim Vertrieb von Massenkonsumgütern, darunter auch von Speiseeis, missbraucht. Diese Produkte waren nicht für den Verkauf an Haushalte bestimmt, sondern wurden über im Rahmen einer Ausschließlichkeitsklausel gebundene Vertriebshändler in Bars, Cafés, Sportstätten etc. angeboten.

Aufgrund der Beschwerde eines Wettbewerbers eröffnete AGCM gegen Unilever eine Untersuchung. In deren Laufe war AGCM der Ansicht, dass sie nicht verpflichtet sei, die wirtschaftlichen Analysen zu prüfen, die Unilever vorgelegt hatte, um nachzuweisen, dass die untersuchten Praktiken nicht die Verdrängung mindestens ebenso leistungsfähiger Wettbewerber vom Markt bewirkten, da diese Analysen bei Ausschließlichkeitsklauseln völlig irrelevant seien und die Verwendung solcher Klauseln durch ein Unternehmen in beherrschender Stellung ausreiche, um einen Missbrauch dieser Stellung festzustellen.

Daher entschied AGCM, Unilever habe seine marktbeherrschende Stellung i.S.v. Art. 101 AEUV missbraucht, obwohl – und dies sollte entscheidungsrelevant werden – das missbräuchliche Verhalten nicht von Unilever selbst, sondern von den eingeschalteten 150 Vertriebshändlern ausgegangen ist. Doch diese hätten, so die weitere Argumentation, nicht selbstständig gehandelt, weil sie durch eine Ausschließlichkeitsklausel an Unilever gebunden waren. Das habe dann im Ergebnis dazu geführt, den Wettbewerb mit anderen Anbietern von Konsumartikeln in den genannten Verkaufsstätten auszuschließen. AGCM verhängte daher eine Geldbuße gegen Unilever i.H.v. rund 60 Mio. €.

Mit seiner ersten Vorlagefrage will der italienische Staatsrat wissen, welche Kriterien für die Feststellung maßgeblich sind, ob die vertragliche Koordinierung zwischen formal autonomen und unabhängigen Wirtschaftsteilnehmern zu einer einzigen wirtschaftlichen Einheit i.S.d. Art. 101 und 102 AEUV führt? Auf diese Frage beschied der EuGH das höchste italienische Gericht, „dass Art. 102 AEUV dahin auszulegen ist, dass das Verhalten von Vertriebshändlern, die Teil des Vertriebsnetzes für Waren oder Dienstleistungen eines Herstellers in beherrschender Stellung sind, diesem zugerechnet werden können, wenn feststeht, dass dieses Verhalten von den Vertriebshändlern nicht selbstständig angenommen wurde, sondern Teil einer einseitig von diesem Hersteller beschlossenen und mittels dieser Vertriebshändler umgesetzten Politik ist“ (Rz. 33).

Die zweite vom Gerichtshof zu beantwortende Frage zielte darauf ab, „ob Art. 102 AEUV dahin auszulegen ist, dass die zuständige Wettbewerbsbehörde bei Vorliegen von Ausschließlichkeitsklauseln in Vertriebsverträgen für die Feststellung des Missbrauchs einer beherrschenden Stellung nachweisen muss, dass diese Klauseln die Wirkung haben, ebenso leistungsfähige Wettbewerber wie das Unternehmen in beherrschender Stellung vom Markt auszuschließen, und ob diese Behörde, bei Vorliegen einer Vielzahl von streitigen Praktiken jedenfalls verpflichtet ist, die vom betreffenden Unternehmen ggf. vorgelegten wirtschaftlichen Analysen eingehend zu prüfen, insbesondere wenn sie auf dem Test des ‚ebenso leistungsfähigen Wettbewerbers‘ beruhen“ (Rz. 16).

Die schlüssige Antwort des EuGH erklärt, „dass Art. 102 AEUV dahin auszulegen ist, dass eine Wettbewerbsbehörde bei Vorliegen von Ausschließlichkeitsklauseln in Vertriebsverträgen verpflichtet ist, für die Feststellung des Missbrauchs einer beherrschenden Stellung unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände und insbesondere unter Berücksichtigung der ggf. von dem Unternehmen in beherrschender Stellung vorgelegten wirtschaftlichen Analysen in Bezug auf die fehlende Eignung der in Rede stehenden Verhaltensweisen, Wettbewerber, die ebenso leistungsfähig sind wie es selbst, vom Markt zu verdrängen, nachzuweisen, dass diese Klauseln den Wettbewerb beschränken können. Die Anwendung des Tests des ebenso leistungsfähigen Wettbewerbers ist fakultativ. Werden die Ergebnisse eines solchen Tests jedoch von dem betreffenden Unternehmen im Verwaltungsverfahren vorgelegt, so ist die Wettbewerbsbehörde verpflichtet, deren Beweiswert zu prüfen“ (Rz. 62).

Quintessenz: Kartellverfahren im Rahmen der Art. 101, 102 AEUV werden aufgrund dieses Urteils des Gerichtshofs wohl noch zeitraubender, aufwändiger und kostenträchtiger – für alle Beteiligten.



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 25.01.2023 10:35
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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