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Aktuell in der ZIP

Der Dieselskandal zwischen Unionsrecht und deutschem Haftungsrecht (Riehm, ZIP 2022, 2309)

Die Streitigkeiten um zivilrechtliche Ansprüche der Käufer von Dieselfahrzeugen gegen deren Hersteller haben den Europäischen Gerichtshof erreicht. Nach Entscheidungen über die öffentlich-rechtliche Unzulässigkeit bestimmter Abschalteinrichtungen (EuGH v. 17.12.2020 – C-693/18 – CLCV, ECLI:EU:C:2020:1040, ZIP 2021, 1606 = EWiR 2021, 398 (Kliebisch); v. 8.11.2022 – C-873/19, ECLI:EU:C:2022:857) und deren Einordnung als Sachmangel im Sinne der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie (EuGH, Urt. v. 14.7.2022 – C-128/20, C-134/20, ECLI:EU:C:2022:571; EuGH v. 14.7.2022 – C-145/20, ECLI:EU:C:2022:572, NJW 2022, 2605 = ZIP 29/2022 Rz. 5) steht nun eine Entscheidung über die aus Sicht des deutschen Privatrechts zentrale Frage bevor: Verlangt das Unionsrecht eine zivilrechtliche Haftung von Diesel-Herstellern gegenüber den Fahrzeugkäufern, und falls ja, unter welchen Voraussetzungen? Die Schlussanträge des Generalanwalts Rantos im Fall „QB/Mercedes Benz-Group“ vom 2.6.2022 (ZIP 2022, 1212) geben Anlass, die Auswirkungen des unionsrechtlichen Effektivitätsprinzips auf das deutsche Deliktsrecht und die Grenzen des Einflusses des EU-Rechts auf die Dogmatik des mitgliedstaatlichen Haftungsrechts näher zu untersuchen.

I. Ausgangspunkt: BGH-Rechtsprechung zur Herstellerhaftung in „Diesel-Fällen“
II. Unionsrechtlicher Rechtsrahmen

1. Emissions-VO 715/2007
2. Rahmen-RL 2007/46/EG
3. Reform durch die VO (EU) 2018/858
4. Offene Fragen zu den privatrechtlichen Auswirkungen
III. Unionsrecht als Schutzgesetz i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB?
1. Anforderungen an Schutzgesetze
1.1 Schutzgesetze im deliktischen Haftungssystem
1.2 Erfordernis des Schutzes spezifischer Vermögensinteressen
2. Emissions-VO oder Rahmen-RL als Schutzgesetze?
2.1 Kein Schutz der wirtschaftlichen Selbstbestimmung der Fahrzeugkäufer
2.2 Unbeachtlichkeit von Ziff. 0 des Anhangs IX der Rahmen-RL
2.3 Schlussanträge von GA Rantos
3. Kein Verstoß gegen die Vorschriften über die Übereinstimmungsbescheinigung
IV. Fehlen „wirksamer, verhältnismäßiger und abschreckender“ Sanktionen?
1. Unionsrechtliche Anforderungen an Sanktionen
1.1 Reichweite des unionsrechtlichen Effektivitätsprinzips
1.2 Unbeachtlichkeit der Muñoz-Rechtsprechung des EuGH
2. Bestehende „Sanktionen“ nach deutschem Recht
2.1 Verwaltungsrechtliche Rechtsfolgen
2.2 Straf- und Bußgeldrecht
2.3 Gewährleistungsrecht
2.4. Deliktsrecht
3. Abzug von Nutzungsvorteilen
4. Fazit
4.1 Unionsrecht verlangt keine Ersatzansprüche gegen den Hersteller
4.2 Unionsrecht verlangt keine Systembrüche im mitgliedstaatlichen Haftungsrecht
V. Ergebnisse


I. Ausgangspunkt: BGH-Rechtsprechung zur Herstellerhaftung in „Diesel-Fällen“

In den vergangenen Jahren wurde die Haftung der Fahrzeug- und Motorenhersteller für den Einbau unzulässiger Abschalteinrichtungen in Dieselmotoren von den deutschen Gerichten ausschließlich unter dem Gesichtspunkt des deutschen Deliktsrechts behandelt. In seinem Grundsatzurteil vom 25.5.2020 hat der BGH eine Haftung der VW AG gegenüber den Käufern von Neu- und Gebrauchtfahrzeugen mit dem Dieselmotor EA 189, der über eine Prüfstandserkennung und damit über eine unzulässige Abschalteinrichtung verfügte, (nur) auf der Grundlage der vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung (§§ 826, 31 BGB) angenommen. Den Schaden sieht der BGH in dem Abschluss des „ungewollten“ Kaufvertrags über ein Fahrzeug, bei welchem die Gefahr einer Betriebsuntersagung bestand. Die Sittenwidrigkeit bejaht der BGH im Wege einer Gesamtschau: Der Hersteller habe im Hinblick auf die Prüfstandserkennung aufgrund einer strategischen Entscheidung bei der Motorenentwicklung die Zulassungsbehörde ebenso wie die Fahrzeugkäufer bewusst und gewollt getäuscht, so dass Fahrzeuge millionenfach mit unzulässigen Abschalteinrichtungen in Verkehr gebracht worden seien, mit der weiteren Folge einer erhöhten Umweltbelastung und zugleich der Gefahr einer Betriebsuntersagung. Den Vorsatz des Herstellers bzw. eines Organs i.S.v. § 31 BGB hat der BGH aus prozessualen Gründen unterstellt, weil er das Bestreiten des Herstellers wegen dessen sekundärer Darlegungslast für unzureichend gehalten hatte.

Einen Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV hat der BGH dagegen verneint: Die Vorschriften der EG-FGV über die Pflicht des Fahrzeugherstellers zur Erteilung einer Übereinstimmungsbescheinigung seien nicht als Schutzgesetze i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB anzusehen, weil sie lediglich das Interesse der Erwerber an einer reibungslosen Zulassung der Fahrzeuge durch die zuständigen Behörden schützten; dieses sei aber nicht beeinträchtigt.

Diese Begründung der Herstellerhaftung führt dazu, dass nicht in allen Fällen unzulässiger Abschalteinrichtungen eine deliktische Haftung der Hersteller besteht. Eine Haftung ist zum einen auch bei dem Motor EA 189 bei einem Erwerb nach dem 22.9.2015 ausgeschlossen, weil die VW AG an diesem Tag die Öffentlichkeit über „Unregelmäßigkeiten“ der verwendeten Motorsteuerungssoftware informiert hatte. Diese Verhaltensänderung führt nach dem BGH zum Wegfall der objektiven Sittenwidrigkeit des Verhaltens der VW AG. Zum anderen hat der BGH bislang bei allen anderen – unterstellt: unzulässigen – Abschalteinrichtungen die Herstellerhaftung mangels objektiver Sittenwidrigkeit verneint, weil nicht bewiesen war, dass den Mitarbeitern die Illegalität der Abschalteinrichtung bewusst war oder sie einen Rechtsverstoß billigend in Kauf genommen hatten. Diese Rechtsprechung betrifft v.a. verschiedene sog. „Thermofenster“-Konfigurationen der Motorsteuerung, die bewirken, dass die Abgasreinigung nur in bestimmten (unterschiedlich breiten) Temperaturbereichen voll wirksam ist. Das Vorliegen solcher Konfigurationen wird – mit unterschiedlichen Parametern im Einzelnen – für zahlreiche Motoren verschiedener Hersteller behauptet, ohne dass der BGH jedoch je eine Haftung bejaht hätte: so für die Mercedes-Benz-Motoren OM 651 und OM 642, die VW-Motoren EA 189 (nach dem Software-Update) und EA 288 sowie die von Audi entwickelten Motoren 3.0 TDI V6 (EA 897) und 4.2 TDI V8.

Einzelne Landgerichte halten diese BGH-Rechtsprechung allerdings für unionsrechtswidrig und haben den EuGH gem. Art. 267 AEUV um Klärung verschiedener Rechtsfragen gebeten. Neben der öffentlich-rechtlichen Zulässigkeit der verbauten „Thermofenster“ und anderer Konfigurationen der Motorsteuerung haben das LG Ravensburg und andere Landgerichte auch gefragt, ob die haftungsrechtliche Behandlung der „Thermofenster“ durch den BGH den Anforderungen des Unionsrechts genügt. In dem Vorlageverfahren des LG Ravensburg – betreffend den Mercedes-Benz-Motor OM 651 – hat der Generalanwalt beim EuGH Rantos am 2.6.2022 seine Schlussanträge vorgelegt. Diese sollen im Folgenden zum Anlass genommen werden, die gestellten Fragen aus Sicht des Unionsprivatrechts zu beleuchten.

II. Unionsrechtlicher Rechtsrahmen
Das Recht der Kraftfahrzeugzulassung war für die derzeit zu entscheidenden Fällen durch die Emissions-VO (EG) 715/2007 (sogleich 1) und die Rahmen-RL 2007/46/EG (unten 2) unionsrechtlich determiniert. Seit 2018 ist dieses Zulassungsregime durch die VO (EU) 2018/858 überarbeitet worden (unten 3).

1. Emissions-VO 715/2007
Zunächst regelt die Verordnung (EG) 715/2007 (Emissions-VO) die technischen Anforderungen an die Emissionskontrolle von Pkws, indem Abgasgrenzwerte (Anhang I) und Pflichten der Hersteller im Rahmen des Typgenehmigungsverfahrens (Art. 4 und 5 Emissions-VO) definiert werden. Art. 5 Abs. 2 Emissions-VO erklärt dabei ausdrücklich die „Verwendung von Abschalteinrichtungen, die die Wirkung von Emissionskontrollsystemen verringern“, für unzulässig, sofern die Einrichtung nicht „notwendig ist, um den Motor vor Beschädigung oder Unfall zu schützen und um den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten“. In Auslegung dieser Vorgaben hat der EuGH zwischenzeitlich die Programmierung eines sog. „Thermofensters“ in einem konkreten Fall als grundsätzlich unzulässige Abschalteinrichtung i.S.v. Art. 5 Abs. 2 Satz 1 Emissions-VO gewertet. Eine Rechtfertigung einer solchen Einrichtung unter dem Gesichtspunkt des Schutzes des Abgasrückführventils gem. Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit. a) Emissions-VO hat er abgelehnt, sofern nicht nachgewiesen ist, dass diese Einrichtung ausschließlich notwendig ist, um die durch eine Fehlfunktion des Ventils verursachten unmittelbaren Risiken für den Motor zu vermeiden. Eine Abschalteinrichtung, die den überwiegenden Teil des Jahres funktionieren müsste, um den Motor vor Beschädigung zu schützen und den sicheren Fahrzeugbetrieb zu gewährleisten, könne nicht unter diese Ausnahmeregelung fallen. Im Einzelnen hat der EuGH allerdings zahlreiche Detailfragen der Würdigung durch die mitgliedstaatlichen Gerichte überlassen, insbesondere welche Parametrierung von Thermofenstern tatsächlich unzulässig ist, d.h. zu welchem Anteil eines durchschnittlichen Jahres die Abgasreinigung die vorgesehenen Emissionsgrenzwerte tatsächlich einhalten muss.

2. Rahmen-RL 2007/46/EG
Neben die Emissions-VO tritt die sog. Rahmen-RL 2007/46/EG „zur Schaffung eines Rahmens für die Genehmigung von Kraftfahrzeugen [...]“. Während deren Art. 6 ff. das EG-Typgenehmigungsverfahren regeln, durch welches Kfz-Hersteller einen bestimmten Fahrzeugtyp als solchen genehmigen lassen können, betrifft Art. 18 dieser Richtlinie die „EG-Übereinstimmungsbescheinigung“ des Herstellers, mit welcher er für jedes einzelne Fahrzeug bestätigt, dass es dem genehmigten Typ entspricht. Diese Bescheinigung ist nach Art. 26 der Richtlinie grundsätzlich Voraussetzung für die Zulassung, den Verkauf und die Inbetriebnahme von Neu- oder Importfahrzeugen. Aufbau und Inhalt der EG-Übereinstimmungsbescheinigung werden in Anhang IX der Richtlinie näher bestimmt.

3. Reform durch die VO (EU) 2018/858
Mit Wirkung zum 1.9.2020 sind die Rahmen-RL und Teile der Emissions-VO durch die VO (EU) 2018/858 abgelöst worden. Die Regelungen über die Übereinstimmungsbescheinigung finden sich in deren Art. 36 und 37 sowie in Anhang VIII der Durchführungsverordnung (EU) 2020/683 der Kommission vom 14.5.2020. In der Sache ist die einschlägige Rechtslage hinsichtlich der Übereinstimmungsbescheinigung nicht verändert worden. Auch den Erwägungsgründen der „neuen“ Verordnung lässt sich insoweit kein Wille zur...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 22.11.2022 15:55
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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