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Whistleblowing - Fragen des Hinweisgeberschutzes aus gesellschaftsrechtlicher Perspektive (Fest, ZIP 2022, 2265)

Hinweisgeber leisten einen wesentlichen Beitrag zur Rechtsdurchsetzung. Aufgrund dieser Überzeugung verfolgen sämtliche Rechtsakte zum Whistleblowing das Ziel, Personen, die den Verdacht eines Rechtsverstoßes hegen, zu dessen Meldung zu aktivieren. Der Fokus liegt dabei auf den Regelungen, die bei potentiellen Hinweisgebern die Befürchtung empfindlicher Nachteile zerstreuen sollen. Zu diesen Maßnahmen des sog. passiven Whistleblower-Schutzes zählt insbesondere das Verbot von Repressalien (Art. 19 WBRL, § 36 Abs. 1 HinSchG-RegE). Als ebenso bedeutsam für die Aktivierung potentieller Whistleblower erachtet Erwägungsgrund 3 Satz 2 WBRL die sog. aktive Whistleblower-Förderung durch die Einrichtung und den Betrieb effektiver, vertraulicher und sicherer Meldekanäle. Die diesbezüglichen Vorgaben (Art. 7–9 WBRL) sowie deren beabsichtigte Umsetzung in das deutsche Recht (§§ 12–18 HinSchG-RegE) geben Anlass, die gesellschaftsrechtlichen Fragen des Hinweisgeberschutzes zu beleuchten.


I. Pflicht zur Einrichtung interner Meldestellen
1. Beurteilungsspielraum bei der Ausgestaltung von Compliance-Systemen
2. Vorgaben der WBRL
3. Inhalt des HinSchG-RegE
II. Organisation interner Meldestellen
1. Eigenständige Unternehmen
a) Beschwerdestellen
b) Aufsichtsrat
c) Betriebsrat
d) Compliance-Abteilung und andere Personen
e) Organisationsermessen und Mitbestimmung
2. Konzern
III. Auswirkungen auf die Organhaftung
1. Einrichtungspflicht
2. Betriebspflicht
3. Bußgeldregress
IV. Zusammenfassung der Ergebnisse


I. Pflicht zur Einrichtung interner Meldestellen

Nach Art. 8 Abs. 1 Halbs. 1 WBRL haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass juristische Personen des privaten Sektors Kanäle und Verfahren für interne Meldungen und für Folgemaßnahmen einrichten. Diese Vorgabe bedeutet für zahlreiche deutsche Unternehmen nicht weniger als die Erweiterung ihrer Corporate Compliance um ein neues Pflichtelement.

1. Beurteilungsspielraum bei der Ausgestaltung von Compliance-Systemen
Die Pflicht, einen Prozess einzurichten, der es Mitarbeitern unter Wahrung ihrer Identität ermöglicht, bestimmte Rechtsverstöße innerhalb des Unternehmens an geeignete Stellen zu berichten, ist dem deutschen Recht nicht unbekannt. Derzeit findet sie sich allerdings nur als besondere Organisationspflicht im Aufsichtsrecht für Unternehmen bestimmter Branchen, z. B. für Kreditinstitute (§ 25a Abs. 1 Satz 6 Nr. 3 KWG), Wertpapierdienstleistungsunternehmen (§ 80 Abs. 1 Satz 1 WpHG), Wertpapierinstitute (§ 13 Abs. 1 Satz 1 WpIG), Börsenträger (§ 5 Abs. 8 BörsG), Kapitalverwaltungsgesellschaften (§ 28 Abs. 1 Satz 2 Nr. 9 KAGB), Verpflichtete i.S.v. § 2 Abs. 1 GwG (§ 6 Abs. 5 GwG), Wirtschaftsprüfer (§ 55b Abs. 2 Satz 2 WPO) und Versicherungsunternehmen (§ 23 Abs. 6 VAG). Diese aufsichtsrechtlichen Pflichten können jedoch allgemeiner Ansicht nach nicht im Wege der Gesamtanalogie auf Unternehmen erstreckt werden, die keiner vergleichbaren Aufsicht unterliegen. Für sie existiert gegenwärtig keine geschriebene, vom Unternehmensgegenstand unabhängige Verpflichtung zur Einrichtung sog. Hinweisgeber-Systeme. Diese sind trotz ihrer Verbreitung insbesondere bei großen Unternehmen kein notwendiges Element der Corporate Compliance. Der gesetzlich nicht näher konturierte Begriff Compliance umfasst ein Bündel von Pflichten, die in ihrem Zusammenwirken darauf zielen, dass die unternehmerische Tätigkeit unter Einhaltung der geltenden Gesetze und sonstigen Regeln ausgeübt wird. Aus dem Kreis der geschriebenen Compliance-Pflichten sind § 91 Abs. 2 und 3 AktG hervorzuheben. Sie verpflichten den Vorstand einer AG, ein geeignetes Überwachungssystem und – bei der Börsennotierung der Gesellschaft (§ 3 Abs. 2 AktG) – ein angemessenes internes Kontroll- sowie ein Risikomanagementsystem einzurichten. Diese nur für die AG ausbuchstabierten Gebote werden rechtsformübergreifend durch die Legalitätskontrollpflicht ergänzt. Als besondere Ausprägung der allgemeinen Sorgfaltspflicht (§ 93 Abs. 1 Satz 1 AktG, § 43 Abs. 1 GmbHG) verpflichtet sie das jeweilige Leitungsorgan dazu, auf allen Ebenen des Unternehmens – auch den unteren – die erforderlichen und zumutbaren organisatorischen Maßnahmen für die Gewährleistung rechtmäßigen Verhaltens zu ergreifen. Gemeinsam ist den geschriebenen und ungeschriebenen Compliance-Pflichten, dass sie dem Leitungsorgan durch die Verwendung von unbestimmten Rechtsbegriffen einen weiten Beurteilungsspielraum zugestehen. Dieser umfasst auch die Entscheidung darüber, aus welchen Elementen das Compliance-System bestehen soll, insbesondere ob die Einrichtung eines Hinweisgeber-Systems erforderlich ist.

2. Vorgaben der WBRL
Den de lege lata bestehenden Beurteilungsspielraum für die Einrichtung eines Hinweisgeber-Systems hat der deutsche Gesetzgeber nach Art. 8 Abs. 1 Halbs. 1, Abs. 3 WBRL dahingehend einzuschränken, dass sämtliche juristischen Personen des privaten Sektors mit 50 oder mehr Arbeitnehmern Kanäle und Verfahren für interne Meldungen einzurichten haben. Diese Vorgabe soll durch § 12 Abs. 1 Satz 1 HinSchG-RegE umgesetzt werden, wonach Beschäftigungsgeber (§ 3 Abs. 9 HinSchG-RegE) mindestens eine interne Meldestelle einzurichten und zu betreiben haben. Für Beschäftigungsgeber mit in der Regel 50 bis 249 Beschäftigten soll diese Verpflichtung nicht sogleich mit dem Inkrafttreten des HinSchG, sondern – im Einklang mit Art. 26 Abs. 2 WBRL – erst ab dem 17.12.2023 (§ 42 Satz 1 HinSchG-RegE) gelten. Für juristische Personen mit 250 oder mehr Arbeitnehmern besteht diese Pflicht bereits seit dem Ablauf der Umsetzungsfrist am 17.12.2021 (Art. 26 Abs. 1 WBRL), obwohl das Gesetzgebungsverfahren noch nicht abgeschlossen ist. Zwar lehnt der EuGH eine unmittelbare Richtlinienwirkung für das Horizontalverhältnis zwischen Privaten ausnahmslos ab. Unionsrechtlich geboten ist aber eine richtlinienkonforme Auslegung des deutschen Rechts, hier der unbestimmten Rechtsbegriffe im Rahmen der Legalitätskontrollpflicht. Diese hat zur Folge, dass der Beurteilungsspielraum sich am 18.12.2021 dahingehend verengt hat, dass sämtliche deutsche Unternehmen mit 250 oder mehr Arbeitnehmern über ein Hinweisgeber-System nach Maßgabe der Art. 8 ff. WBRL verfügen müssen.

3. Inhalt des HinSchG-RegE
Der am 5.8.2022 vorgelegte HinSchG-RegE ist am 29.9.2022 vom Bundestag in der ersten Lesung zur weiteren Beratung an den federführenden Rechtsausschuss überwiesen worden. Die Einrichtungspflicht nach § 12 Abs. 1 Satz 1 HinSchG-RegE dürfte nur wenig Anlass zu Diskussionen geben. Für privatwirtschaftliche Unternehmen sind lediglich drei Punkte bemerkenswert.

Erstens, zu begrüßen ist, dass die Entwurfsverfasser den Begriff der juristischen Person des privaten Sektors (Art. 8 Abs. 1 Halbs. 1 WBRL) nicht übernommen, sondern durch die terminologische Neuschöpfung „Beschäftigungsgeber“ ersetzt haben. Mit dessen Begriffsbestimmung in § 3 Abs. 9 HinSchG-RegE trägt der Entwurf zum einen dem Umstand Rechnung, dass der in der WBRL verwendete Begriff bei der gebotenen autonomen Auslegung des Unionsrechts neben juristischen Personen deutschen Rechts auch rechtsfähige Personengesellschaften und sonstige Personenvereinigungen umfasst. Zum anderen wird die Einrichtungspflicht – über die Vorgabe in Art. 8 Abs. 1 Halbs. 1 WBRL hinaus – auf natürliche Personen ausgedehnt. Ein sachlicher Grund, Einzelkaufleute wie z.B. Wolfgang Grupp, dessen Unternehmen TRIGEMA mehr als 1.000 Arbeitnehmer beschäftigt, im Unterschied zu einer Ein-Personen-GmbH von der Einrichtungspflicht auszunehmen, ist nicht ersichtlich.

Zweitens, bei § 12 Abs. 2 HinSchG-RegE fällt auf, dass der deutsche Gesetzgeber den in Art. 8 Abs. 3 WBRL genannten Schwellenwert von 50 Arbeitnehmern mit dem Zusatz „in der Regel“ versehen hat. Diese Formulierung soll – wie aus arbeitsrechtlichen Gesetzen bekannt (z. B. § 23 Abs. 1 Satz 2, 3 KSchG) – eine stichtagsbezogene Betrachtung vermeiden. Sie kann zwar dazu führen, dass Unternehmen, die nur kurzzeitig den Schwellenwert von 50 Arbeitnehmern erreichen, keiner Einrichtungspflicht unterliegen. Ein Umsetzungsdefizit liegt darin aber nicht. Der in Art. 8 Abs. 3 WBRL festgelegte Schwellenwert ist Ausdruck des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Dieser Primärrechtssatz (Art. 5 Abs. 4 EUV) lässt es nicht nur zu, sondern gebietet es sogar, den Schwellenwert relativierend dahingehend auszulegen, dass die Einrichtungspflicht nur durch eine nachhaltige Überschreitung begründet wird. Auffällig ist ferner, dass das HinSchG-RegE keine § 23 Abs. 1 Satz 4 KSchG vergleichbare Regelung enthält, wonach teilzeitbeschäftigte Personen nur anteilig nach Maßgabe ihrer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit zu berücksichtigen sind. Obwohl die Begründung des HinSchG-RegE keine Aussage hierzu enthält, liegt es nahe, darin eine bewusste Entscheidung der Entwurfsverfasser zu sehen, da jeder Beschäftigte unabhängig von dem Umfang seiner Arbeitszeit Kenntnis von Verstößen erlangen kann und daher ein potentieller Hinweisgeber ist.

Drittens, bei der Entscheidung, ob ein Hinweisgeber-System eingerichtet wird, hatte das jeweilige Leitungsorgan bislang das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats zu achten. Dieses ergab sich – abhängig von der Ausgestaltung des Systems – aus § 87 Abs. 1 Nr. 6 oder Nr. 1 BetrVG. Mit der Einführung der Einrichtungspflicht verlieren die Leitungsorgane ihren Beurteilungsspielraum mit der Folge, dass das Mitbestimmungsrecht insoweit aufgrund des Eingangshalbsatzes von § 87 Abs. 1 BetrVG entfällt.

II. Organisation interner Meldestellen

1. Eigenständige Unternehmen

An die Feststellung, dass den Beschäftigungsgebern (§ 3 Abs. 9 HinSchG-RegE) jedenfalls demnächst die Pflicht obliegt, eine interne Meldestelle einzurichten, schließt sich nahtlos die Frage nach...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 15.11.2022 16:35
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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