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Aktuell in der ZIP

Organmitglieder als Whistleblower (Grobe, ZIP 2022, 2114)

Die 2019 vom europäischen Gesetzgeber verabschiedete Whistleblower-Richtlinie gilt nicht nur für einfache Arbeitnehmer, sondern weitet ihren Geltungsbereich auch auf Mitglieder von Leitungs- und Aufsichtsorganen aus. Die damit verbundenen Auswirkungen auf die Verschwiegenheitspflicht der Organe sind jedoch noch nicht ausreichend ergründet. Insbesondere wurde die Frage aufgeworfen, ob die traditionellen Prinzipien der Geheimhaltungspflichten auch unter der neuen Rechtsordnung noch Gültigkeit haben. Der Regierungsentwurf, auf den sich die Ampel-Koalition im Juli 2022 einigte, nachdem die Vorgängerregierung lange Zeit untätig blieb und die Umsetzungsfrist der Richtlinie verstreichen ließ, verkennt die Sprengkraft der Problematik ebenfalls.

I. Einleitung
II. Zum Begriff des Whistleblowing und der Whistleblower-RL
III. Organschaftliche Verschwiegenheitspflicht und Whistleblowing

1. Die Pflicht zur Verschwiegenheit nach § 93 Abs. 1 Satz 3 AktG und ihre Disposition durch den Gesamtvorstand
2. Die Pflicht des Vorstandsmitglieds zur Verschwiegenheit nach § 93 Abs. 1 Satz 3 AktG und die Folgen einer Verletzung durch Whistleblowing
3. Die Pflicht zur Verschwiegenheit nach § 116 Satz 2 AktG und ihre Disposition durch den Aufsichtsrat als Gesamtorgan
4. Die Pflicht des Aufsichtsratsmitglieds zur Verschwiegenheit nach § 116 Satz 2 AktG und die Folgen einer Verletzung durch Whistleblowing
5. Organe und Organmitglieder anderer Gesellschaftsformen
5.1 Das Recht der GmbH
5.2 Das Recht der Personengesellschaften
6. Zusammenfassende Bewertung
IV. Neubewertung aufgrund von Whistleblower-RL und Regierungsentwurf
1. Auswirkungen von Whistleblower-Richtlinie und Regierungsentwurf auf die gesellschaftsrechtliche Verschwiegenheitspflicht
1.1 Personaler Anwendungsbereich
1.2 Inhalt und Umfang des Whistleblower-Schutzes; Schutz vor Repressalien
1.2 Subjektive Anforderungen
1.3 Meldung und Offenlegung
2. Zwischenergebnis
V. Zusammenfassung


I. Einleitung

Whistleblowing ist in den Fokus medialer Berichterstattung gerückt. In vielen Fällen führten die von Whistleblowern zur Verfügung gestellten Informationen zur Aufdeckung schwerwiegender Wirtschaftsvergehen. Zuletzt erlangte der Wirecard-Skandal im Jahr 2020 große Aufmerksamkeit, der – wie erst später publik wurde – durch Hinweise leitender Angestellter der Wirecard AG ans Licht kam. Diese und vorangegangene Enthüllungen haben erheblichen Einfluss auf die gesellschaftliche und rechtliche Bedeutung des Whistleblowings: Galt dieses noch vor wenigen Jahren als Verrat und Paradebeispiel eines Pflichtverstoßes, der je nach Stellung des Hinweisgebers zur Kündigung oder Abberufung führte, hat sich das heutige Verständnis gewandelt. Whistleblower nehmen in der Öffentlichkeit den Status als rechtschaffende Kämpfer für Wahrheit und Transparenz ein und gelten als Sympathieträger. Dieser Wandel ist auch dem europäischen Gesetzgeber nicht verborgen geblieben. So wurde im Oktober 2019 nach zähem Ringen die Richtlinie zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden (Whistleblower-Richtlinie), erlassen. Zwar hat es der deutsche Gesetzgeber versäumt, eine Regelung innerhalb der Umsetzungsfrist zu verabschieden. Die Ampel-Koalition hat allerdings im April 2022 einen Referentenentwurf und im Juli 2022 einen Regierungsentwurf vorgelegt.

Die bisherigen gesellschaftsrechtlichen Beiträge im Schrifttum zur Whistleblowing-Thematik behandeln vor allem die Pflicht von Vorstand und Aufsichtsrat zur Einrichtung und Ausgestaltung von Whistleblower-Systemen. Nur vereinzelt findet man Ausführungen dazu, wie es sich mit dem Pflichtenkanon der Organmitglieder verträgt, wenn ein Vorstands- oder Aufsichtsratsmitglied selbst in die Rolle des Whistleblowers tritt. Die Richtlinie erfasst ausdrücklich auch Organmitglieder. Dass diese Entwicklungen Einfluss auf die gesellschaftsrechtliche Verschwiegenheitspflicht in ihrer bisherigen Form nehmen, ist bisweilen allerdings vernachlässigt worden. Selbst der kürzlich veröffentlichte Regierungsentwurf geht nicht auf die Besonderheiten im Zusammenhang mit Leitungs- und Überwachungsorganen von Gesellschaften ein. Der nachfolgende Beitrag ist daher als „warnender Pfiff“ zu verstehen und soll einen Einblick in die möglichen Folgen dieser Veränderung geben.

II. Zum Begriff des Whistleblowing und der Whistleblower-RL
Als Whistleblower werden im Allgemeinen Personen bezeichnet, die als Informationsinsider bei Rechtsverstößen oder sonstigen ernsthaften Fehlentwicklungen im Unternehmen eine Warnung abgeben, indem sie unter Übergehung der unternehmensinternen Hierarchie Informationen an eine mit Überwachungsaufgaben betraute geeignete Stelle intern im Unternehmen oder extern gegenüber einer staatlichen Stelle melden oder gegenüber anderen Dritten offenlegen. Dieses Verständnis findet sich auch in der im Oktober 2019 verabschiedeten Whistleblower-Richtlinie wieder, die keine Vorrangigkeit der internen Meldung enthält und von einem weiten personalen Anwendungsbereich ausgeht. Zwar erfasst die Richtlinie nur Verstöße gegen EU-Recht. Jedoch handelt es sich dabei um eine Mindestharmonisierung, so dass die Mitgliedsstaaten berechtigt sind, auch das Melden von Verstößen gegen nationale Regelungen im Rahmen der Umsetzung zu berücksichtigen. Diese Möglichkeit hat der Regierungsentwurf aus dem Juli 2022 aufgegriffen und den sachlichen Anwendungsbereich entsprechend erweitert, vgl. § 2 HinSchG-E.

Der personale Anwendungsbereich erfasst nach Art. 4 I lit. c WBRL auch Mitglieder der Leitungs- und Überwachungsorgane. Begründet wird dies damit, dass eine wirksame Durchsetzung der von der Richtlinie gesteckten Ziele es erfordere, „ein möglichst breites Spektrum von Personengruppen zu schützen, wenn diese aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit, unabhängig von der Art dieser Tätigkeit sowie davon, ob diese vergütet wird oder nicht, privilegierten Zugang zu Informationen über Verstöße, deren Meldung im öffentlichen Interesse liegt, haben und die im Falle einer solchen Meldung Repressalien erleiden könnten.“ Maßgeblich ist damit der von der Richtlinie verfolgte Zweck, den Schutz von Whistleblowern zu verbessern, indem gemeinsame Mindeststandards zur Gewährleistung eines wirksamen Whistleblower-Systems statuiert werden, um Verstöße gegen EU-Recht aufzudecken, zu verhindern und damit die Durchsetzung von EU-Recht zu verbessern. Der Regierungsentwurf definiert in § 1 Abs.1 HinSchG-E den Begriff der hinweisgebenden Person und fasst den Anwendungsbereich ähnlich weit und unbestimmt: Erfasst sind natürliche Personen, die im Zusammenhang mit ihrer beruflichen Tätigkeit oder im Vorfeld einer beruflichen Tätigkeit Informationen über Verstöße erlangt haben und diese an die nach diesem Gesetz vorgesehenen Meldestellen melden oder offenlegen. Eine besondere Erwähnung finden Leitungs- und Überwachungsorgane weder im Entwurf noch in seiner Begründung.

Dennoch ist die Vorstellung, dass Mitglieder des Leitungs- oder Überwachungsorgans als Whistleblower aktiv werden, auf den ersten Blick ungewöhnlich. Vorstands- als auch Aufsichtsratsmitglieder sind zur Verschwiegenheit verpflichtet, § 93 Abs. 1 Satz 3, § 116 Satz 2 AktG. Die Verschwiegenheitspflicht schützt und gewährleistet ihre organschaftliche Aufgabenwahrnehmung. In anderen Bereichen werden Aspekte der Verschwiegenheit auch im Rahmen der WBRL (Art. 3 Abs. 3 WBRL) und des Regierungsentwurfs (§§ 5, 6 HinSchG-E) berücksichtigt. Für die organschaftliche Verschwiegenheitspflicht der Leitungs- und Überwachungsorgane gilt das hingegen nicht. Dies lässt vermuten, dass sowohl Verordnungs- als auch Gesetzgeber in der Einbeziehung von Organmitgliedern eine bewusste Entscheidung getroffen haben.

Schaut man in die Praxis, so sind Fälle, in denen Organe als Whistleblower auftraten, nicht bekannt. Beim Wirecard-Skandal wurde ein leitender Angestellter der Rechtsabteilung als Whistleblower aktiv. Weder die Mitglieder des Vorstands noch diejenigen des Aufsichtsrats wanden sich an BaFin, Ermittlungsbehörden oder Öffentlichkeit. Dabei ist mittlerweile bekannt, dass bereits im Vorfeld der staatsanwaltschaftlichen Untersuchungen Verdachtsmomente existierten. Das lässt die Vermutung zu, dass Whistleblowing durch Organmitglieder aufgrund der geltenden (absoluten) Verschwiegenheitspflicht mit erheblichen Risiken belastet ist und deshalb kaum in Erscheinung tritt. Blickt man auf die Intention der WBRL, so wird deutlich, dass die Grundsätze der Verschwiegenheitspflicht so nicht mehr Bestand haben werden. Es bedarf daher zunächst einer vertieften Betrachtung zur gegenwärtigen Lage der organschaftlichen Verschwiegenheitspflicht, bevor auf die Auswirkungen der Whistleblower-Richtlinie eingegangen werden kann.

In sachlicher Hinsicht erfasst die WBRL sowohl das Melden von Informationen über Verstöße gegen Vorschriften des Unionsrechts, Art. 2 Abs. 1, Art. 5 Nr. 1 WBRL als auch Informationen über künftige Verstöße, die sehr wahrscheinlich erfolgen werden, Art. 5 Nr. 2 WBRL. Die umfassten Rechtsgebiete werden in Art. 2 Abs.1 lit. a WBRL aufgeführt. Zu ihnen zählen u.a. das öffentliche Auftragswesen, Finanzdienstleistungen, Produktsicherheit, Umweltschutz sowie Verbraucherschutz. In Anhang I der Whistleblower-Richtlinie sind die dazugehörigen Rechtsakte erwähnt. Miterfasst sind auch rechtsmissbräuchliche Verhaltensweisen, die dem Ziel der erfassten Rechtsnorm entgegenstehen, vgl. Art. 5 Nr. 1 WBRL. Hingegen ist rechtmäßiges, aber „unethisches“ oder dem öffentlichen Interesse zuwider laufendes Verhalten – trotz einiger im Entstehungsprozess der Richtlinie befürwortender Stimmen – nicht erfasst. Der Regierungsentwurf ist diesen Vorgaben gefolgt und hat den sachlichen Anwendungsbereich nicht weiter gefasst.

Zur Erreichung des Zwecks bedient sich die Richtlinie verschiedener Instrumentarien: Neben der – den juristischen Personen des öffentlichen und privaten Sektors auferlegten – Pflicht zur Errichtung interner Meldekanäle zur Entgegennahme und Weiterverfolgung von Informationen zu Verstößen, Art. 7 ff. WBRL, sind die Mitgliedsstaaten gehalten, externe Meldestellen (Whistleblowing-Behörden) einzurichten, Art. 10 ff. WBRL. Den Schwerpunkt bildet der in Art. 4, 6, 19, 20 und 21 WBRL manifestierte Schutz vor diskriminierenden Repressalien. Der Regierungsentwurf hat die Vorgaben entsprechend umgesetzt.

III. Organschaftliche Verschwiegenheitspflicht und Whistleblowing

1. Die Pflicht zur Verschwiegenheit nach § 93 Abs. 1 Satz 3 AktG und ihre Disposition durch den Gesamtvorstand

Nach § 93 Abs. 1 Satz 3 AktG sind die Mitglieder des Vorstands zur Verschwiegenheit verpflichtet. Sie haben über vertrauliche Angaben und Geheimnisse der Gesellschaft, die ihnen durch ihre Tätigkeit im Vorstand bekanntgeworden sind, Stillschweigen zu bewahren. Vertrauliche Angaben sind alle Informationen, die ein Vorstandsmitglied in dieser Eigenschaft erlangt hat. Ob dabei die Information selbst als vertraulich bezeichnet wurde, ist nicht von Belang. Maßgeblich ist, ob...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 26.10.2022 12:24
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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