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Aktuell in der ZIP

Abschied vom „Quotenschaden“ (Altmeppen, ZIP 2022, 1413)

Die Neuregelung der Haftung für verbotene Zahlungen ab Insolvenzreife (§ 15b Abs. 4 InsO) hat den heftigen Streit um Rechtsnatur und Inhalt dieser Haftung keineswegs erledigt. Im Schrifttum konkurrieren verschiedenste Deutungen, nach denen die Neuregelung entweder praktisch so gut wie bedeutungslos oder umgekehrt gravierend ist, weil sie die bisher herrschenden Vorstellungen in Rechtsprechung und Lehre zu Makulatur gemacht hat. Die Unsicherheiten beruhen auf Verwirrung um den Begriff des „Quotenschadens“, der nichts anderes als der „Gesamtschaden der Gläubigerschaft“ (§ 15b Abs. 4 Satz 2 InsO) sein kann.

I. Einleitung
II. Gesamtschaden und Verlustausgleich

1. Notwendigkeit der Gesamtbetrachtung
2. Dogmatische Einordnung als deliktische culpa-Haftung auf Verlustausgleich
3. Argumente gegen die Verlustausgleichspflicht
4. Stellungnahme
a) „Quotenschaden“ ohne Bilanzverlust
b) Kein „Quotenschaden“ trotz Bilanzverlust
c) Resümee
5. Zufällige Vermögensschwankungen
a) Untauglichkeit des Zahlungsbegriffs
b) Zufallshaftung des Insolvenzverschleppers
6. Zur Berechnung des relevanten Masseverlustes
7. „Privilegierte“ und „nicht privilegierte“ Zahlungen
8. „Gesamtschaden“, „Quotenschaden“, „Verlust“
III. Ergebnisse


I. Einleitung

Nach Inkrafttreten des § 15b InsO am 1.1.2021 ist für Wissenschaft und Praxis geklärt, dass es sich bei der Haftung für verbotene Zahlungen ab Insolvenzreife jedenfalls um eine Schadensersatzhaftung handeln muss, weil der Gesetzeszweck dieser Haftung im Ausgleich des „Schadens der Gläubigerschaft“ bestehen soll (§ 15b Abs. 4 Satz 2 InsO). In der Regierungsbegründung zu § 15b Abs. 4 InsO heißt es, der Haftungstatbestand laufe „... auf eine ... Vermutung eines Gesamtgläubigerschadens in Höhe der verbotswidrig geleisteten Zahlungen“ hinaus.

Dann dürften auch nur die verbotenen Zahlungen der relevante Anspruchsgrund sein, nicht die Verletzung der Insolvenzantragspflicht. Die Gegenmeinung knüpft – zwecks Rechtfertigung ihrer „Gesamtbetrachtung“ – an die Verletzung der Antragspflicht an: Alle darauf beruhenden Vermögensminderungen einschließlich der Erhöhung der Verbindlichkeiten bestimmen danach die Schadensberechnung.

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Überlagert wird der Streit um die Dogmatik der Insolvenzverschleppungshaftung durch den Begriff des „Quotenschadens“, den angeblich nur Altgläubiger erleiden, weil Neugläubiger (ausschließlich?) ein „Kontrahierungsschaden“ treffe, nämlich als Folge ihrer Vorleistung an eine insolvente Kapitalgesellschaft. Die Berechnungsformel für diesen „Quotenschaden“ hat (erwartungsgemäß) zu der bitteren Erkenntnis geführt, dass er sich in der Praxis gar nicht berechnen lässt.

Allerdings war schon die Prämisse falsch, einen Quotenschaden könnten nur Altgläubiger erleiden, weil Neugläubiger nur einen Kontrahierungsschaden hätten. Der methodische Fehler der petitio principii liegt auf der Hand: Selbstverständlich erleidet der Verkäufer als vorleistender Neugläubiger sowohl den Kontrahierungsschaden in Gestalt des Einkaufswertes seiner Vorleistung (abzgl. seiner Quotenaussicht), als auch einen Quotenschaden bezüglich seines positiven Interesses am Erhalt des Kaufpreises, von dem er infolge der Insolvenzverschleppung am Ende nur die geringere Quote erhält.

Kurzum: Um den Begriff des „Quotenschadens“ ranken sich seit BGHZ 29, 100 nur kryptische Fehlvorstellungen. Er soll erstens allein die Altgläubiger treffen und (deshalb?) zweitens nicht berechenbar sein! Man muss kein Jurist sein, um zu erkennen, dass beide Aussagen dogmatisch und wertungsmäßig eine Zumutung darstellen.

II. Gesamtschaden und Verlustausgleich

1. Notwendigkeit der Gesamtbetrachtung

Im Schrifttum ist die Lehrmeinung entwickelt worden, im Zuge einer „Gesamtbetrachtung“ komme es auf den vom Geschäftsleiter in der Zeitspanne seiner Insolvenzverschleppung zu Lasten der Masse erwirtschafteten Verlust an. Die im Ansatz missglückte „Einzelbetrachtung“ ist heute zwar aufgrund der gesetzlich angeordneten Gesamtbetrachtung (§ 15b Abs. 4 Satz 2 InsO) Rechtsgeschichte. Doch es hält sich hartnäckig die Fehlvorstellung, aus sturer Addition verbotener Zahlungen folge der „Gesamtschaden“ der Gläubigerschaft im Sinne ihres Maximalschadens. Das war bei genauer Betrachtung immer schon unhaltbar, weil es keinen Erfahrungssatz gibt, die insolvente Kapitalgesellschaft leiste (verbotene) Zahlungen unentgeltlich bzw. kompensationslos. Deshalb darf man zu § 15b Abs. 4 InsO nicht die gesetzgeberische Fehlleistung aus dem 19. Jahrhundert tradieren und „vermuten“, zu ersetzen seien „alle Zahlungen“. Nach der Lebenserfahrung – sie allein ist Grundlage gesetzlicher Vermutungen – ist genau das Gegenteil zu vermuten: Die Kapitalgesellschaft leistet Zahlungen erfahrungsgemäß nur deshalb, weil dafür im Gegenzug vermögenswerte Gegenleistungen für die Kapitalgesellschaft erbracht werden, auch wenn sie im Insolvenzverfahren nicht mehr konkret nachweisbar sein mögen.

Wer einen Schaden der Gläubigerschaft in Höhe der „Summe aller Zahlungen ab Insolvenzreife“ vermuten will, bestreitet deshalb in Wirklichkeit weiterhin den Charakter der Insolvenzverschleppungshaftung als einer culpa-Haftung, gerichtet auf Schadensersatz. Das entsprach zwar früher der Rechtsprechung und herrschenden Meinung, nach welcher gerade nicht der „Schaden“, sondern „jede verbotene Zahlung“ zu ersetzen sei. Doch das war klassische Begriffsjurisprudenz des 19. Jahrhunderts (i.S.v. positivistischer statt teleologischer Gesetzesinterpretation), und diese ist de lege lata nicht mehr vertretbar (§ 15b Abs. 4 Satz 2 InsO).

2. Dogmatische Einordnung als deliktische culpa-Haftung auf Verlustausgleich
Unter Geltung der Neuregelung in § 15b InsO wird weiterhin darüber gerätselt, ob Haftungsgrund eine Unterlassung (des Insolvenzantrags, § 15a InsO) oder ein Handeln in Gestalt der verbotenen Zahlungen (§ 15b InsO) sei.

Doch schädigt die Verletzung der Insolvenzantragspflicht (Unterlassen) für sich allein betrachtet die Gläubigerschaft nur in dem Ausnahmefall, dass die Masse sich durch schlichtes Abwarten ihrer Verwertung verringert, Paradigma: Börsenkurs eines Aktienpakets der Gesellschaft stürzt ab. In aller Regel erleidet die Gläubigerschaft einen Schaden aber nur deshalb, weil der Geschäftsführer...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 27.07.2022 09:53
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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