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Die Vorsatzanfechtung im Wertungssystem der Insolvenzanfechtung (Klinck, ZIP 2022, 1357)

Auf der „Dauerbaustelle Insolvenzordnung“ gehört die Insolvenzanfechtung zu den betriebsamsten Feldern. Nicht nur der Gesetzgeber, auch und vor allem die Rechtsprechung – namentlich des IX. Senats des BGH – greift hier immer wieder gestaltend ein. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht dabei eine Fallkonstellation, die praktisch besonders relevant ist: Der Schuldner leistet an einen seiner Gläubiger, als er sich bereits in der Krise befindet, die sodann zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens führt. In dieser Fallgruppe steht der Tatbestand der Vorsatzanfechtung nach § 133 InsO im Fokus. Nicht erst mit der jüngsten „Neuausrichtung“ bemüht sich der IX. Senat darum, die Reichweite dieser Norm richtig zu bestimmen. Der Beitrag geht der Frage nach, warum dies so schwerfällt und welche Probleme der methodische Ansatz verursacht, den der IX. Senat hier verfolgt.

I. Die „Neuausrichtung“ bei der Vorsatzanfechtung und ihre Auswirkungen
1. Der Benachteiligungsvorsatz und sein Nachweis im Prozess
2. „Neuausrichtung“ mit BGH, Urteil vom 6.5.2021 – IX ZR 72/20
3. Konkretisierungen durch BGH, Urteil vom 3.3.2022 – IX ZR 78/20 – „Q-Cells“
a) Relevanz von Sanierungsaussichten
b) Maßgeblicher Zeitraum
II. Die Vorsatzanfechtung im Wertungssystem des Anfechtungsrechts
1. Interessenlage: Zahlungen in der Krise des Schuldners aus drei Perspektiven
2. Problem: Abgrenzung der Vorsatz- von der besonderen Insolvenzanfechtung
3. Die Vorstellungen der Urheber der Konkursordnung
4. Wertungsaporie der heutigen Vorsatzanfechtung
III. Teleologisch-systematische Feinsteuerung durch Beweisrecht?
1. Normsystematische Erwägungen im Beweisrecht?
2. Entwicklung der Rechtsprechung
3. Problematische Konsequenzen
IV. Fazit


I. Die „Neuausrichtung“ bei der Vorsatzanfechtung und ihre Auswirkungen

1. Der Benachteiligungsvorsatz und sein Nachweis im Prozess

Der Tatbestand der Vorsatzanfechtung ist sehr einfach strukturiert: Neben einer Handlung des Schuldners, welche die Gläubiger benachteiligt (§ 129 Abs. 1 InsO), verlangt er den Vorsatz des Schuldners, seine Gläubiger zu benachteiligen, und die Kenntnis des Anfechtungsgegners von diesem Vorsatz.

Der objektive Bezugspunkt des Vorsatzes, die Gläubigerbenachteiligung, ist nach wohl einhelliger Ansicht identisch mit derjenigen, die nach § 129 Abs. 1 InsO allgemeine Voraussetzung jeder Anfechtbarkeit ist: Es genügt eine mittelbare Benachteiligung der Gläubiger. Sie liegt immer schon dann vor, wenn nicht mehr alle Gläubiger vollständig befriedigt werden können und ihr Ausfall ohne die fragliche Handlung kleiner wäre. Bezogen auf das intellektuelle Element des Vorsatzes folgt daraus: Der Schuldner muss die Möglichkeit erkennen, dass er nicht in der Lage sein wird, alle Gläubiger vollständig zu befriedigen und dass die fragliche Rechtshandlung wenigstens mittelbar zu einem weitergehenden Forderungsausfall seiner Gläubiger führt. Entsprechend ist das voluntative Vorsatzelement erfüllt, wenn der Schuldner diesen weitergehenden Forderungsausfall billigend in Kauf nimmt, sich mit ihm abfindet. Daran fehlt es, wenn der Schuldner bei Vornahme der fraglichen Rechtshandlung darauf vertraut hat, doch noch alle Gläubiger vollständig befriedigen zu können.

Die vom Insolvenzverwalter zu beweisende Tatsache, dass der Schuldner bei Vornahme der Rechtshandlung mit Benachteiligungsvorsatz handelte, ist einer unmittelbaren Wahrnehmung durch das Gericht nicht zugänglich. Es muss sich seine Überzeugung daher auf Grundlage von Indizien bilden, deren Bedeutung für die richterliche Überzeugungsbildung auf Erfahrungssätzen fußt. Der IX. Senat des BGH spricht hier von „Beweisanzeichen“.

2. „Neuausrichtung“ mit BGH, Urteil vom 6.5.2021 – IX ZR 72/20
Viele Jahre hatte der IX. Senat angenommen, die vom Schuldner erkannte mindestens drohende Zahlungsunfähigkeit sei auch bei kongruenten Deckungen ein „Beweisanzeichen“ für den Benachteiligungsvorsatz des Schuldners. Diesbezüglich hat der IX. Senat seine Rechtsprechung mit einem viel beachteten Urteil „neu ausgerichtet“: Die Kenntnis des Schuldners von seiner nur drohenden Zahlungsunfähigkeit allein soll bei kongruenten Deckungen nicht mehr ohne weiteres den Schluss auf seinen Benachteiligungsvorsatz zulassen. Bei der Frage, ob allein aus der Kenntnis einer bereits eingetretenen Zahlungsunfähigkeit des Schuldners auf seinen Benachteiligungsvorsatz geschlossen werden kann, sollen die Tatgerichte künftig stärker berücksichtigen, dass der Schuldner auch in dieser Situation gehofft haben mag, später wieder alle Gläubiger befriedigen zu können. Ob das der Fall war, sollen die Tatgerichte nach den seinerzeitigen Umständen, namentlich nach der Größe der Deckungslücke und einem bereits eingetretenen Mahn- und Vollstreckungsdruck der Gläubiger beurteilen.

Zwar hatte der IX. Senat schon zuvor immer wieder betont, dass die von ihm postulierten „Beweisanzeichen“ nicht schematisch im Sinne einer vom anderen Teil zu widerlegenden Vermutung „angewandt“ werden dürfen, dass der Tatrichter die subjektiven Voraussetzungen der Vorsatzanfechtung vielmehr unter Würdigung aller maßgeblichen Umstände des Einzelfalls auf der Grundlage des Gesamtergebnisses der Verhandlung und einer etwaigen Beweisaufnahme zu prüfen habe. Daher konnten die Tatgerichte die Überzeugung, der Schuldner habe mit Benachteiligungsvorsatz gehandelt, auch schon nach der bisherigen Rechtsprechung nicht immer allein auf die Tatsache gründen, dass der Schuldner seine Zahlungsunfähigkeit bei Vornahme der Rechtshandlung kannte. Bislang hatte der IX. Senat allerdings angenommen: „In diesem Fall [scil.: wenn er seine drohende Zahlungsunfähigkeit kennt] handelt der Schuldner nur dann nicht mit Benachteiligungsvorsatz, wenn er aufgrund konkreter Umstände – etwa der sicheren Aussicht, demnächst Kredit zu erhalten oder Forderungen realisieren zu können – mit einer baldigen Überwindung der Krise rechnen kann.“ Hatte der anfechtende Insolvenzverwalter bewiesen, dass der Schuldner im fraglichen Zeitpunkt von seiner jedenfalls drohenden Zahlungsunfähigkeit wusste, folgte daraus also mehr als ein Indiz, nämlich eine tatsächliche Vermutung für einen Benachteiligungsvorsatz; es war am Anfechtungsgegner, diese zu erschüttern, indem er die „konkreten Umstände“ darlegte und im Bestreitensfall bewies, aufgrund derer der Schuldner auf eine baldige Überwindung der Krise hoffen durfte. Beruft der Anfechtungsgegner sich darauf, der Schuldner habe zwar seine eigene Zahlungsunfähigkeit gekannt, sei aber von einer erfolgreichen Sanierung ausgegangen und habe deshalb ohne Benachteiligungsvorsatz gehandelt, verlangte der IX. Senat in seiner bisherigen Rechtsprechung sogar, „dass zu der Zeit der angefochtenen Handlung ein schlüssiges, von den tatsächlichen Gegebenheiten ausgehendes Sanierungskonzept vorlag, das mindestens in den Anfängen schon in die Tat umgesetzt war und die ernsthafte und begründete Aussicht auf Erfolg rechtfertigte. ... Die bloße Hoffnung des Schuldners auf eine Sanierung räumt seinen Benachteiligungsvorsatz nicht aus, wenn die dazu erforderlichen Bemühungen über die Entwicklung von Plänen und die Erörterung von Hilfsmöglichkeiten nicht hinausgekommen sind.“ Nach der „Neuausrichtung“ aber soll nun der Insolvenzverwalter die Darlegungs- und Beweislast auch dafür tragen, dass keine begründete Aussicht auf eine Beseitigung der Illiquidität bestand, was zugleich bedeutet, dass die Tatgerichte im Zweifel, bei einem non liquet, von einer solchen Aussicht auszugehen haben. Von der früheren anfechtungsrechtlichen Sanierungsrechtsprechung bleibt dann, so schien es jedenfalls nach diesem Urteil, nur noch, dass die Tatgerichte auch künftig davon ausgehen sollen, dass keine begründete Aussicht auf Beseitigung der Deckungslücke bestand, „wenn die Ursache für die Entstehung der Zahlungsunfähigkeit nicht beseitigt war oder absehbar beseitigt werden würde“.

3. Konkretisierungen durch BGH, Urteil vom 3.3.2022 – IX ZR 78/20 – „Q-Cells“

a) Relevanz von Sanierungsaussichten

Diese noch recht knappen Ausführungen konnten die Befürchtung schüren, dass der Anfechtungsgegner sich nun mit der Behauptung, der Schuldner habe trotz Kenntnis seiner Zahlungsunfähigkeit auf Besserung, nämlich eine Sanierung gehofft, der Anfechtung entziehen kann. In einem weiteren Urteil, das im März dieses Jahres in Sachen „Q-Cells“ verkündet wurde und wie das Urteil zur „Neuausrichtung“ zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung bestimmt ist, hat sich der BGH nun recht eingehend dazu geäußert, welche Relevanz Sanierungsbemühungen des Schuldners für die Feststellung seines Benachteiligungsvorsatzes künftig haben sollen. Im zu entscheidenden Fall hatte der Schuldner, dem die Zahlungsunfähigkeit bereits drohte, einen Sanierungsversuch unternommen; dabei hatte ihn der spätere Beklagte beraten, und der Schuldner hatte ihm dafür laufend Honorare gezahlt. Ab einem bestimmten Datum war der Sanierungsversuch objektiv gescheitert, was der Schuldner auch erkannt hatte. Er hatte dem Beklagten daraufhin – als er sich aber noch immer im Zustand nur drohender, noch nicht eingetretener Zahlungsunfähigkeit befand – weitere Honorarzahlungen geleistet und wenige Tage später Insolvenzantrag gestellt. Der Insolvenzverwalter forderte die Honorarzahlungen als anfechtbar zurück.

Im Einklang mit der früheren Rechtsprechung des BGH hatten Ausgangs- und Berufungsinstanz zunächst die Kenntnis des Schuldners von seiner drohenden Zahlungsunfähigkeit als „Beweisanzeichen“ für seinen Benachteiligungsvorsatz gewertet. Der Beklagte hatte sich demgegenüber u.a. darauf berufen, dass der Schuldner trotz dieser Kenntnis wegen konkreter Sanierungsaussichten ohne Benachteiligungsvorsatz gehandelt habe. Der BGH hätte es nun dabei bewenden lassen können, festzustellen, dass nach der „Neuausrichtung“ seiner Rechtsprechung die Kenntnis des Schuldners von seiner nur drohenden Zahlungsunfähigkeit allein den tatrichterlichen Schluss auf den Benachteiligungsvorsatz ohnehin nicht trägt. Auf die Sanierungsaussichten des Schuldners kam es also genau genommen noch gar nicht an. Dennoch widmet der BGH sich ihrer Relevanz recht breit. Das liegt wohl daran, dass weitere Indizien, die im Zusammenhang mit der Kenntnis des Schuldners von seiner nur drohenden Zahlungsunfähigkeit den Schluss auf seinen Benachteiligungsvorsatz erlauben, sich hier aufdrängten: Der BGH nennt als ein solches Indiz, dass der Eintritt der Zahlungsunfähigkeit unmittelbar bevorsteht, der Schuldner dies erkennt und sich bewusst ist, dass...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 20.07.2022 10:32
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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