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Aktuell in der ZIP

Der Rückzug von der Börse (Delisting) aus verwaltungsprozessualer Perspektive (Gabriel, ZIP 2022, 1251)

Ob ein Anleger, der sich gegen den Rückzug eines Unternehmens von der Börse (sog. Delisting) wehrt, Rechtsschutz vor den VG erlangen kann, wird in Rechtsprechung und Literatur seit längerem diskutiert. Ein Hauptproblem liegt in der Frage, ob und inwiefern er über die hierfür erforderliche Klagebefugnis gem. § 42 Abs. 2 VwGO verfügt. Der Hessische Verwaltungsgerichtshof hat im Lichte der jüngeren Erweiterung von § 39 BörsG mit Beschluss v. 22.2.2021 (6 B 2656/20) das nächste Kapitel in diesem Streit eröffnet. Der Beitrag beleuchtet den aktuellen Sachstand und legt dar, wo auf Basis der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs noch Fragen offen sind.


I. Hintergrund

II. Das Problem des Drittschutzes von Anlegern vor den VG

1. Was bisher geschah – Der Streit um den Schutz des Anlegers

2. Neufassung von § 39 BörsG

3. Die Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs

III. Folgen der Entscheidung und offene Fragen

1. Reichweite und Inhalt von § 39 Abs. 2 Satz 2 BörsG

1.1 Zur Einbeziehung von § 39 Abs. 3 Satz 1 BörsG

1.2 Zur Bedeutung der Börsenordnungen

1.3 Zwischenergebnis

2. Was ist mit sonstigen Anlegern?

3. Entfaltet § 39 Abs. 1 BörsG drittschützende Wirkung?

IV. Zusammenfassung


I. Hintergrund

Der Börsengang eines Unternehmens (d.h. die Zulassung von Wertpapieren zum regulierten Markt einer Börse) besteht grob aus zwei Handlungssträngen: Erstens der (im Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht verorteten) Herstellung der Börsenfähigkeit im Vorlauf zum Börsengang und zweitens der eigentlichen Zulassung der Wertpapiere zum regulierten Markt der Börse (§ 32 Abs. 1 BörsG).

Das gleiche Bild zeigt sich, wenn ein Emittent umgekehrt sein Engagement an der Börse beenden (oder einschränken) möchte. Erfolgreich ist sein Rückzug nur, wenn der Emittent die gesellschaftsrechtlichen sowie die dem Privatrecht zuzuordnenden kapitalmarktrechtlichen Vorgaben (namentlich § 39 Abs. 3 BörsG) umsetzt. Doch selbst, wenn er aus zivilrechtlicher Sicht alles für den Rückzug Erforderliche getan hat, steht die eigentliche Entscheidung hierüber nicht ihm selbst zu. Sind die Wertpapiere einmal zum regulierten Markt der Börse zugelassen, kann nur noch die Geschäftsführung der Börse die erteilte Zulassung der Wertpapiere per Verwaltungsakt widerrufen. Sie entscheidet hierüber entweder von Amts wegen (§ 39 Abs. 1 BörsG – sog. Zwangsdelisting) oder auf Antrag des Emittenten (§ 39 Abs. 2 BörsG – sog. reguläres Delisting).

Es ist wichtig, beide Handlungsstränge voneinander zu trennen. Weil der Börsengang und der Börsenrückzug für jeden Emittenten und jeden Anleger sowohl mit Vorteilen (erhöhte Verkehrsfähigkeit der Wertpapiere, Zugang zu Kapital etc.) als auch mit Nachteilen (stärkere Regulierung, Rechnungslegung, Haftung etc.) verbunden sind, sind hierauf gerichtete Unternehmensentscheidungen häufig umstritten. Kommt es zum Äußersten und wird die Frage nach der Rechtmäßigkeit des Börsengangs oder -Rückzugs vor den Gerichten ausgetragen, hängt der Ausgang des Rechtstreits u.a. davon ab, ob die Beteiligten sich dieser Handlungsstränge bewusst sind.

Das beginnt bei der Frage, vor welchem Gericht Rechtsschutz zu suchen ist. Wendet sich das Unternehmen oder ein Anleger gegen die Zulassungs- oder die Widerrufsentscheidung, ist der Rechtsweg zu den VG eröffnet. Stehen gesellschaftsrechtliche oder dem Privatrecht zuzuordnende kapitalmarktrechtliche Fragen im Streit, entscheiden hierüber die ordentlichen Gerichte. Das klingt zunächst selbstverständlich. Allerdings ist nicht immer klar, welche Rechtsfragen welchem Rechtsgebiet zuzuordnen sind. Hinzu kommt, dass Inhalt und Reichweite des jeweils vor Gericht zu erlangenden Schutzes auch danach bemessen werden, welche im Streit stehenden Elemente von der jeweils anderen Gerichtsbarkeit abgedeckt werden. Weil die VG und die ordentlichen Gerichte die Grenzfälle nicht im direkten Dialog miteinander klären können, haben sie in der Vergangenheit „über Bande gespielt“ und in ihren jeweiligen Entscheidungen Überlegungen zu Reichweite und Inhalt des Rechtsschutzes vor der jeweils anderen Gerichtsbarkeit angestellt. Allen voran der BGH hat mehrfach ausgeführt, welche Aspekte des Delistings aus seiner Sicht dem Verwaltungsrecht zuzuordnen sind. Die VG haben diese Überlegungen nicht immer aufgegriffen; vereinzelt haben sie hierzu sogar diametral entgegengesetzte Auffassungen vertreten. Dies wiederum führt(e) innerhalb des Rechtsschutzsystems zu Lücken, die der Gesetzgeber durch wiederholte Anpassung der einschlägigen Vorschriften zu schließen versuchte.

Besonders deutlich zeigt sich dies anhand der Frage, wo und in welchem Umfang ein Anleger sich gerichtlich gegen das reguläre Delisting eines Wertpapiers zur Wehr setzen kann. Das Problem ist auf die Eigenheiten des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes zurückzuführen:

II. Das Problem des Drittschutzes von Anlegern vor den VG

Verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz gegen einen Verwaltungsakt erhält grundsätzlich nur, wer geltend machen kann, dass er durch den Verwaltungsakt in seinen Rechten verletzt wird (§ 42 Abs. 2 VwGO). Unproblematisch zu bejahen ist dies bei dem Adressaten eines belastenden Verwaltungsakts – namentlich also dem Emittenten, dessen Wertpapiere entweder nicht zum regulierten Markt zugelassen werden (§ 32 Abs. 1 BörsG) oder deren einmal erteilte Zulassung trotz eines Antrags des Emittenten nicht widerrufen wird (§ 39 Abs. 2 BörsG).

Schwieriger liegt der Fall bei den Anlegern. Sie selbst sind (...)
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 05.07.2022 09:18
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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